Wie steht es um die Willkommenskultur in Deutschland?
Eine Studie zeigt: Beim Thema Zuwanderung steigt zwar die Akzeptanz, aber es bleiben auch Vorbehalte.
Der Begriff der Willkommenskultur ist gar nicht leicht zu fassen. Stand er 2015 für die Aufnahmebereitschaft für geflüchtete Menschen und die gesellschaftlichen Herausforderungen und Chancen, die das mit sich brachte, war er davor eher ein Marketinginstrument: Von einer guten Willkommenskultur sollten sich vor 2015 hauptsächlich qualifizierte Menschen angezogen fühlen, die in Deutschland arbeiten konnten und wollten – damit sollte dem wachsenden Fachkräftemangel begegnet werden. Was heißt Willkommenskultur heute? Wie wird sie wahrgenommen?
Die Skepsis Zuwanderung gegenüber nimmt ab
Seit zehn Jahren dokumentiert die Bertelsmann Stiftung mit ihrer sogenannten Willkommenskultur-Umfrage, wie sich die Einstellungen zu Migration und Zuwanderung verändern. Jetzt gibt es neue Ergebnisse. An ihnen ist erkennbar: Die Skepsis gegenüber Zuwanderung nimmt weiter ab.
Für die Studie „Willkommenskultur zwischen Stabilität und Aufbruch. Aktuelle Perspektiven der Bevölkerung auf Migration und Integration in Deutschland“ wurden im November 2021 knapp 2.000 Menschen ab 14 Jahren repräsentativ durch das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid befragt. In der Studie zeichnet sich ab, dass die Chancen von Migration stärker in den Fokus gerückt sind.
So nehmen 65 Prozent der Befragten Zuwanderung als Chance gegen eine Überalterung der Gesellschaft wahr. 48 Prozent erwarten Mehreinnahmen für die Rentenversicherung. Mehr als sechs von zehn Befragten finden, Zuwanderung würde das Leben in Deutschland interessanter machen.
Zuwanderung als Chance für die Wirtschaft
Insbesondere für den Arbeitsmarkt sehen die Befragten positive Auswirkungen durch Migration. 68 Prozent der Befragten sind der Ansicht, Zuwanderung bringe Vorteile für die Ansiedlung internationaler Firmen. Mehr als jede:r zweite Befragte sieht in der Zuwanderung einen Ausgleich für den Fachkräftemangel. Vor allem bei Menschen, die zum Arbeiten oder für ihr Studium nach Deutschland kommen, ist die Akzeptanz der Bevölkerung hoch: 71 Prozent der Befragten heißen Menschen, die zum Arbeiten bei ihnen vor Ort leben, eher oder sehr willkommen.
71 Prozent der Befragten heißen Menschen, die zum Arbeiten bei ihnen vor Ort leben, eher oder sehr willkommen.
Dazu im Vergleich fallen die Willkommenswerte für geflüchtete Menschen geringer aus, auch wenn die Werte im Kontext der vergangenen Befragungen stabil blieben. Zwar sind geflüchtete Menschen im Gegensatz zu Zuwanderern und Zuwanderinnen, die berufsbezogen vor Ort leben, prozentual gesehen weniger willkommen, dennoch sind sie der Mehrheit der Befragten willkommen: 59 Prozent stimmen zu, dass geflüchtete Menschen bei ihnen vor Ort willkommen seien.
Je jünger die Befragten, desto optimistischer
Die Studie kommt auch zu dem Ergebnis, dass Menschen bis 29 Jahre optimistischer auf das Thema Migration und Zuwanderung blicken als der Durchschnitt. Hier kann eine erhöhte Sensibilität für Diskriminierungserfahrungen festgestellt werden. Junge Menschen fordern zusätzlich überdurchschnittlich oft einen anderen Umgang mit Zuwanderern und Zuwanderinnen seitens der Gesetzgebung: Sie befürworten laut der Studie stärker als andere Befragte neue Gesetze zur Bekämpfung der mangelnden Chancengleichheit. Im Vergleich zu den Vorjahresstudien sprechen sich mehr Befragte für Antidiskriminierungsgesetze aus.
Eine Politik muss aus den Menschen bestehen, für die sie gemacht ist. Die Initiative Brand New Bundestag fordert ein Parlament, das divers und inklusiv aufgestellt ist und repräsentativ für verschiedene Bevölkerungsgruppen steht. Wir haben mit dem Co-Gründer Dr. Max Oehl über die Ziele von Brand New Bundestag gesprochen.
Nur 36 Prozent der Befragten sehen Menschen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen Raum angemessen repräsentiert. Insbesondere in den gesellschaftlichen Bereichen Politik, Verwaltung, Polizei, Kitas, Schulen und Universitäten seien Menschen mit Migrationsgeschichte nicht ausreichend vertreten.
Willkommenskultur als Form der Solidarität
Die Aufnahmebereitschaft von Menschen, die auf der Flucht sind, ist ebenfalls gestiegen. 2017 stimmten noch 54 Prozent der Aussage zu, Deutschland könne nicht mehr Geflüchtete aufnehmen, da es an seiner Belastungsgrenze sei. Die neuen Studienergebnisse markieren einen Rückgang: Nur noch 36 Prozent haben der Aussage zugestimmt. Auch die Ansicht, dass die Bundesrepublik aus humanitären Gründen mehr geflüchtete Menschen aufnehmen sollte, wird inzwischen von fast jedem bzw. jeder zweiten Befragten (48 Prozent) geteilt.
Allerdings ist auch klar zu erkennen, dass der Umgang mit Vielfalt Zeit braucht. Sorgen und Zweifel sind noch immer verbreitet und erfordern gesamtgesellschaftliche Antworten.
Orkan Kösemen, Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung
Insgesamt zeichnen die Studienergebnisse eine zunehmend positive Wahrnehmung von Zuwanderung in der deutschen Bevölkerung. Die Skepsis sinkt langsam, aber konstant. „Allerdings ist auch klar zu erkennen, dass der Umgang mit Vielfalt Zeit braucht. Sorgen und Zweifel sind noch immer verbreitet und erfordern gesamtgesellschaftliche Antworten“, sagt Orkan Kösemen, Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung.
Wie können diese Antworten aussehen? Wir müssen sie als Gesellschaft im Dialog gemeinsam finden.