Fatale Folgen für Frauen
Frau ist nicht gleich Mann – und das hat Einfluss auf die Wirkung von Medikamenten. Pharmakologin Petra Thürmann über den Gendergap in der Arzneimittelherstellung.
Frauen leiden doppelt so häufig unter Nebenwirkungen von Medikamenten wie Männer. Wie kann das sein? Ein Grund dafür ist, dass die Arzneimittel nicht immer optimal auf sie zugeschnitten sind. Das Problem stellt sich bei näherer Betrachtung jedoch differenzierter dar, aber dazu später mehr.
In den USA ist gesetzlich vorgeschrieben, dass bei der Medikamentenerforschung nach Geschlechtern getrennte Analysen vorgenommen werden, also separat untersucht wird, wie Wirkstoffe je nach Geschlecht wirken. So ist der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA bereits seit 1994 das „Office on Women’s Health“ angesiedelt, das unter anderem darüber wacht, dass Frauen ausreichend in klinische Studien einbezogen werden. In Deutschland ist es erst seit 2004 verpflichtend, dass mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der Medikamentenentwicklung untersucht werden. Die Zulassung neuer Pharmaka erfolgt über die europäische Zulassungsbehörde EMA. „Auf europäischer Ebene“, erklärt Petra Thürmann, Fachärztin für klinische Pharmakologie, „gibt es bezüglich der Geschlechteranalysen jedoch nur vage Formulierungen – ,Frauen sollten angemessen vertreten sein‘ –, aber keine konkreten Richtlinien.“
Auf europäischer Ebene gibt es bezüglich der Geschlechteranalysen nur vage Formulierungen – ,Frauen sollten angemessen vertreten sein‘ –, aber keine konkreten Richtlinien.
Petra Thürmann, Fachärztin für klinische Pharmakologie
Petra Thürmann ist Fachärztin für klinische Pharmakologie, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für klinische Pharmakologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal sowie Lehrstuhlinhaberin und Vizepräsidentin für Forschung an der Universität Witten/
Herzinfarkt ist nicht gleich Herzinfarkt
Jahrhundertelang war der Arzt ein Mann. Probanden in Studien waren Männer. Männer in den Verbänden definierten medizinische Leitlinien. Erst in den 1980er-Jahren geriet mit der Frauenbewegung der weibliche Körper in den Fokus der Medizin. Noch in den 1990er-Jahren aber war in der Ärzteschaft nicht bekannt, dass sich etwa ein Herzinfarkt bei Frauen anders zeigt als bei Männern (Stichwort „Eva-Infarkt“). Erst die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek nahm sich der Schieflage an und gründete als Pionierin der Gendermedizin 2007 an der Berliner Charité das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin.
Heute sind 48 Prozent des gesamten praktizierenden Ärztepersonals weiblich, das Medizinstudium ergreifen fast doppelt so viele Frauen wie Männer – doch die Vermittlung von Genderwissen im Medizinstudium wurde 2021 in dem Gutachten eines vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Forschungsprojekts des Deutschen Ärztinnenbundes e.V. (DÄB) und der Charité-Universitätsmedizin Berlin als „absolut unzureichend“ bezeichnet. „Existierende Erkenntnisse über geschlechterspezifische Unterschiede müssen im Medizinstudium gelehrt sowie in der Fort- und Weiterbildung vertieft werden“, fordert Petra Thürmann, die erfreut darüber ist, dass die Gendermedizin nun in den neuen nationalen Lernzielkatalog für angehende Ärztinnen und Ärzte aufgenommen wurde.
Auch bei den klinischen Studien in der Medikamentenentwicklung ist viel Luft nach oben: Noch immer ist der Prozentsatz von weiblichen Studienteilnehmenden kleiner, im Schnitt liegt er bei 30 Prozent. Männer überwiegen deutlich in den ersten beiden Studienphasen. In den Phase-3-Studien, wo Wirkstoffe an großen Teilnehmerzahlen erforscht werden, ist die Lage heterogen. Bisweilen sind Frauen und Männer sogar gleich beteiligt. „Manchmal ist aber der Männeranteil sehr hoch – und man versteht gar nicht, warum“, beschreibt Thürmann das Ungleichgewicht. Übrigens werden Frauen, die bereits in den Wechseljahren sind, bevorzugt in Studien integriert – zur Vereinfachung der Interpretation der Daten.
Was den Unterschied macht
Warum nun benötigen Frauen andere Wirkstoffzusammensetzungen oder Dosierungen als Männer? Geschlechterspezifische Unterschiede, die Einfluss auf die individuelle Arzneimitteltherapie haben sollten, gibt es laut Petra Thürmann etwa beim Immunsystem. „Der weibliche Zyklus samt seinen Schwankungen oder die Einnahme von Verhütungsmitteln beeinflussen das Immunsystem, das beim weiblichen Geschlecht darauf ausgelegt ist, im Falle einer Schwangerschaft diese auch zu tolerieren“, erklärt die Pharmakologin. Laut bisheriger Arzneimittelstudien – so ein Positionspapier des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) – sind geschlechterspezifische Unterschiede jedoch grundsätzlich kleiner als jene bezogen auf genetische Faktoren, den Körperbau oder auch den Lebensstil. Für viele Arzneimittel werde daher die Dosierung generell schon individuell angepasst. Ob das ausreicht? „Die Forschung muss dennoch weiterhin unbedingt nach Geschlechtern getrennte Analysen etwa über Wirkstoffaufnahme und -abbau einplanen“, betont Thürmann. Wie Medikamente aufgenommen und ausgeschieden werden, entscheide schließlich maßgeblich über Ausmaß und Dauer der Wirkung.
„Die Forschung muss weiterhin unbedingt nach Geschlechtern getrennte Analysen über Wirkstoffaufnahme und -abbau einplanen.
Petra Thürmann, Fachärztin für klinische Pharmakologie
Es gibt Krankheiten, die hauptsächlich bei einem Geschlecht vorkommen. So Autoimmunerkrankungen, Multiple Sklerose oder das klassische Gelenkrheuma, die deutlich mehr Frauen als Männer betreffen und daher auch eine geschlechterspezifische Behandlung mit Pharmaka verlangen. „Das muss in den klinischen Studien noch stärker abgebildet werden“, ist Petra Thürmann überzeugt. Lange wurde ignoriert, dass es all diese Unterschiede gibt, mit erheblichen Folgen für die Frauengesundheit. Aber Forschung und Entwicklung sind sensibilisiert.
Der Contergan-Skandal und seine Folgen
In den 1960er-Jahren wurden Frauen infolge des Contergan-Skandals als Probandinnen von klinischen Studien ausgeschlossen. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Thalidomid, das unter dem Markennamen Contergan auch gegen Schwangerschaftsübelkeit verabreicht wurde, führte zu zahlreichen schweren Schädigungen an ungeborenen Kindern. In der Folge wurden Wirkstoffe nur noch an Männern getestet, was sich erst im 21. Jahrhundert änderte.