Menschenschutz vor Datenschutz
Seltene Erkrankungen sind eine Herausforderung für Betroffene, Ärzt:innen und die Forschung. Experte Jürgen Schäfer sieht sie aber auch als Chance und Innovationstreiber. Wäre da nicht das Problem mit den Daten.
Jürgen Schäfer ist so etwas wie der deutsche Dr. House. Schließlich hat er Medizinstudierende schon 2008 mit seiner Seminarreihe „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?“ an die medizinische Detektivarbeit im Stile des amerikanischen TV-Arztes herangeführt. Das ungewöhnliche Lehrformat führte 2013 zur Gründung des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ am Universitätsklinikum Marburg. Mittlerweile gibt es ähnliche Zentren an fast allen bundesdeutschen Universitätskliniken.
Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Jahrgang 1956, leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg. Der Internist, Kardiologe, Endokrinologe und Intensivmediziner forschte mehrere Jahre an den National Institutes of Health (NIH, Bethesda USA) und wurde mit mehreren Lehrpreisen ausgezeichnet. Deutschlandweit wurde er aufgrund zahlreicher Diagnosen bei scheinbar unlösbaren Patientenfällen bekannt. Wegen seiner detektivischen Spurensuche wird Schäfer oftmals mit „Dr. House” aus der gleichnamigen US-TV-Serien verglichen.
Auf der Suche nach dem einen Hinweis
Eine Erkrankung wird als selten definiert, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betrifft. Derzeit sind 6.000 bis 8.000 dieser „Rare Diseases“ bekannt, wodurch die Zahl der Betroffenen mit vier Millionen allein in Deutschland recht groß ist. Es dauert lange, bis Patient:innen wissen, an was sie genau leiden, nur allzu oft werden die Beschwerden als „rein psychisch“ abgetan. Und so haben die Patient:innen nicht selten einen Marathon bei Ärzt:innen hinter sich, wenn sie bei Jürgen Schäfer und seinen Kolleg:innen vorstellig werden. Sie kämen, so weiß Schäfer, häufig mit mehreren Aktenordnern voller Befunde und Arztbriefe. Alle müssten gesichtet werden, auf jeder einzelnen Seite könne sich ein entscheidender Hinweis verbergen. Das ist zeitaufwendig – und im IT-Zeitalter nicht mehr zeitgemäß.
Um komplizierte, langjährige Erkrankungen aufzuklären, brauchen wir alle verfügbaren Daten – von der Krankengeschichte bis zum unscheinbarsten Laborwert.
Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg
Weil viele Erkrankungen in keinem Standardlehrbuch zu finden sind, nutzen Schäfer und sein Team unterschiedliche IT-Systeme zur Diagnosefindung. Seit 2020 werden sie am Marburger Universitätsklinikum von den renommierten KI-Professoren Martin Hirsch und Sebastian Kuhn unterstützt: „Um komplizierte, langjährige Erkrankungen aufzuklären, brauchen wir alle verfügbaren Daten – von der Krankengeschichte bis zum unscheinbarsten Laborwert in einem nutzbaren Format“, macht Schäfer deutlich. Die Krux: Je seltener eine Erkrankung, desto mehr Daten braucht es, um die Erkrankung zu verstehen und zu behandeln. Gerade weil 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen genetische Ursachen haben, ist es für diese Patient:innen wichtig, zu erfahren, wie sich ihr genetischer Defekt bei anderen auswirkt. Oder wie eine neuartige Medikamententherapie anschlagen kann.
Daten aus der realen Welt
136 Arzneimittel für Seltene Erkrankungen, sogenannte Orphan Drugs, sind laut des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) in der EU derzeit zugelassen. In Deutschland wird der Marktzugang eines Orphan-Medikamentes durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz geregelt. Dabei gelten EU-weit ein paar rechtliche Besonderheiten: Ein Orphan-Drug-Status ist nur zehn Jahre gültig und muss ständig neu dokumentiert werden. Deshalb müssen nach der Marktzulassung insbesondere Nachweise über Behandlungsergebnisse der Patient:innen, die das Mittel erhalten haben, nachgereicht werden. Registerdaten und Berichtsergebnisse also – Daten aus der realen Welt, auch Real World Data genannt.
Eine weitere Herausforderung ist die Beschaffenheit der Daten, damit Forschende und Ärzt:innen besser darauf zugreifen und mit ihnen arbeiten können. Das zeigt die Initiative „Daten für Gesundheit“, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz im Herbst 2020 gemeinsam ins Leben gerufen haben. „Eine intelligente Datennutzung scheitert heute oft an uneinheitlichen Datenformaten und -standards“, heißt es dort wörtlich. Gesundheitsrelevante Daten fallen bei jeder Untersuchung und Behandlung an. Was fehlt, ist ein allgemeingültiger Standard. Arztbriefe sind häufig Freitexte, die je nach Belieben aufgebaut sind, sogar Laborwerte haben je nach Labor Tabellen mit unterschiedlichen Referenzeinheiten. Selbst vermeintlich objektive Daten wie simple Blutdruckwerte könnten so innerhalb einer Klinik unterschiedlich dokumentiert werden. Zudem arbeiten noch längst nicht alle Praxen oder Kliniken mit digitalen Systemen. Nötig sei es folglich, so schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung, Daten digital zu erfassen und sie nach einem einheitlichen internationalen Standard zu archivieren.
Patientenschutz vor Datenschutz
Ein erster Schritt könnte die diagnoseunterstützende, intelligente elektronische Patientenakte (ePa) mit klarer Struktur sein. Derzeit wird die ePa eher als Ersatz für gedrucktes Papier gehandhabt. Das sei so, als würde man sein Smartphone nur zum Telefonieren benutzen, findet Schäfer. Das Potenzial der ePa werde nicht ausgeschöpft. Auch in der Diskussion um den Datenschutz, die im Zusammenhang mit elektronischen Patientenakten immer wieder aufkommt, hat Schäfer eine klare Meinung. Für ihn stehen die Patient:innen im Vordergrund: „Dabei ist ein patientenbezogener Umgang mit dem Datenschutz wichtig“, meint Schäfer, „denn in der Medizin ist dieser anders zu bewerten als etwa in der Telekommunikation. Schließlich kann Datennutzung hier Menschenleben retten und Leid lindern.“
Die Kooperationsbereitschaft der Patient:innen ist jedenfalls groß. Menschen, die an Seltenen Erkrankungen leiden, sind mehr als willig, ihre persönlichen Daten preiszugeben, um die Forschung voranzutreiben. Ruth Hecker, Vorsitzende vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, berichtet: „Schwerkranke Menschen sind eher bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen.“ Manche offenbaren sogar aus lauter Verzweiflung ihre gesamte Leidensgeschichte in Blogs im öffentlich zugänglichen Netz.
Datennutzung kann Menschenleben retten und Leid lindern.
Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg
Dass sensible medizinische Daten nicht in die Hände von kommerziellen Anbietern wie Google & Co. gehören, versteht sich von selbst. Sie müssen dort vorgehalten werden, wo auch medizinische Expertise vorliegt und der qualifizierte Zugang für Forschende zum Wohle aller ermöglicht wird. Schäfer hat auch schon eine Idee, wie das gelingen kann: „Wir müssen eine Art Datentreuhandstelle im Gesundheitsministerium verankern – unter der strengen Kontrolle eines dort angesiedelten Datenschutz- und Datennutzungsbeauftragten.“ Und unter Mitwirkung von Patientenvertreter: innen, Ethikexpert:innen und Forschenden mit entsprechendem Fachwissen für Gesundheitsdaten. So könnte rasch und verantwortungsvoll beurteilt werden, welche gesundheitsrelevanten Daten wie genutzt werden dürfen.
Einer Bertelsmann-Studie zum Thema Digitalisierung des Gesundheitssystems aus dem Jahr 2018 zufolge belegt Deutschland übrigens von 17 untersuchten Ländern den vorletzten Platz. Spitzenreiter im Digital-Health-Index sind Estland, Kanada und Dänemark auf den ersten drei Plätzen, gefolgt von Israel und Spanien. Rezepte werden in diesen Ländern digital übermittelt, die wichtigsten Gesundheitsdaten der Patient:innen in digitalen Akten gespeichert. Bürger:innen können ihre Untersuchungsergebnisse oder Impfdaten online einsehen und selbstständig entscheiden, wer darauf Zugriff hat. Die Studie #SmartHealthSystems der Bertelsmann-Stiftung untersuchte auch, warum Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhinkt. Die Autor:innen der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass drei Faktoren den Erfolg ausmachen: „effektive Strategie, politische Führung sowie eine fest verankerte Institution zur Koordination des Digitalisierungsprozesses“.
Dass Deutschland hier Aufholbedarf habe, sei während der Pandemie deutlich geworden, so Schäfer: „Die vergangenen Jahre haben uns gezeigt, wie wichtig solide Daten in der Medizin sind. Viele Informationen zum Verlauf der Pandemie, zur Impfwirkung, aber auch zu ernsthaften Impfnebenwirkungen hätten wir ohne Länder mit einer besseren Datennutzung nicht bekommen.“ Das sei für ein Industrieland wie Deutschland ein „Armutszeugnis und für die betroffenen Patient:innen überaus zynisch“.
Es geht noch besser
„Wir könnten besser sein“, betont der Mediziner, der eine echte, langfristige Lösung auch in nationalen Kooperationen sieht: Forschende Einrichtungen wie Unikliniken, Großkliniken und Krankenkassen sollten sich nach dem Vorbild der Konsortien der Medizininformatik-Initiative (MII) bundesweit zusammenfinden und ähnlich wie die bereits etablierten universitätsmedizinischen Datenintegrationszentren (DIZ) strukturierte Forschungs- und Versorgungsdaten erheben.
Für uns, die wir die Menschen leiden sehen, ist es unerträglich, dass bei uns ein mutmaßlicher Datenschutz zum Teil über den Menschenschutz gestellt wird – hier muss sich dringend etwas ändern.
Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg
Mit Daten müsse „forschungsoffener“ umgegangen werden, resümiert Jürgen Schäfer. „Allein die Daten, die die Krankenkassen vorhalten, könnten Bioinformatiker zum Wohle der Betroffenen geschickt auswerten.“ Doch solche Diagnoseansätze scheiterten schon daran, dass sich niemand zuständig fühle. Hinzu kommt: Laut Gesetzgeber müssen nach spätestens zehn Jahren alle Daten gelöscht werden. „Für uns, die wir die Menschen leiden sehen, ist es unerträglich, dass in Deutschland ein mutmaßlicher Datenschutz zum Teil über den Menschenschutz gestellt wird – hier muss sich dringend etwas ändern.“
Schäfer sieht Seltene Erkrankungen als Kristallisationspunkt: „Eine verbesserte Versorgung bei den Seltenen Krankheiten würde automatisch auch zu einer Strukturverbesserung für die häufigen führen“, ist er überzeugt. Mit anderen Worten: „Die Seltenen Krankheiten sind ein wichtiger Innovationstreiber unseres Gesundheitssystem. Ähnlich wie die Versorgung von Herzinfarktpatienten die intensivmedizinische Versorgung revolutioniert hat, können die Seltenen Krankheiten die Diagnostik aller Erkrankungen verbessern.“