ZEIT für X
Mann hebt mit einem Exoskelett auf dem Rücken ein Paket an

Nie wieder Rücken

08. September 2022
Ein Artikel von Studio ZX.

Menschen im Handwerk, der Logistik oder der Alten­pflege bewegen täglich Tonnen. Die Folge: Über­lastung und Rücken­schmerzen. Die Exo­skelette von German Bionic packen mit an. Und werden dank maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz immer besser.

Abertausend Päckchen und Pakete laufen tag­täglich im DPD-Logistik­zentrum Malsch bei Karlsruhe auf. Sie gelangen zumeist voll­automatisch von A nach B, doch beim Entladen von Lkw und Containern müssen die Mit­arbeitenden Hand anlegen. Jedes der Pakete bringt 26 Kilo auf die Waage – eine immense körperliche Belastung. Doch dank einer Art gelbem Rucksack, den die Beschäftigten auf dem Rücken tragen, geht die Arbeit mittler­weile deutlich leichter von der Hand. Der Hightech-Rucksack hört auf den Namen Cray X und ist ein Exo­skelett, das German Bionic aus Augsburg entwickelt hat.

Je unergonomischer ich hebe – etwa weil ich müde bin oder mich mein Arbeits­platz in eine Zwangs­haltung bringt – desto stärker unter­stützt mich das Exo­skelett.

Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronik­ent­wicklung bei German Bionic

Sein Trage­gestell ist mit Sensoren bestückt, die Hebebewegungen erkennen. Motoren auf Hüft­höhe bewegen dann den Ober­körper an den Schultern nach oben. „Das Gerät fühlt sich an, als ob man von jemandem unter­stützend hoch­gezogen wird“, beschreibt Hendrik Schreiber, Schicht­leiter bei DPD. „Das entlastet die untere Wirbel­säule und schützt vor Band­scheiben­vor­fällen“, ergänzt Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronik­entwicklung bei German Bionic. Bis zu 30 Kilo fängt das Cray X pro Hebe­bewegung ab. Und korrigiert dabei auch rücken­ge­fährdende Bewegungen. „Je unergo­nomischer ich hebe, etwa weil ich müde bin oder mich mein Arbeits­platz in eine Zwangs­haltung bringt, desto stärker unterstützt mich das Exo­skelett“, erklärt die Software-Ingenieurin.

© German Bionic/Sven Michel

Norma Steller ist CPO beim Robotik­hersteller German Bionic, dem globalen Technologie­führer von aktiven, vernetzten Exo­skeletten in der Arbeits­welt. Zuvor war sie nach einem inter­diszi­plinären Studium der Logistik, Wirtschafts­informatik und Soziologie in Magdeburg und Cork bereits viele Jahre als Product- und Engineering-Manager in Berlin tätig. Schwer­punkte ihrer Arbeit sind KI-basierte Software und das industrielle IoT.

Ein E-Bike zum Anschnallen

Es ist gerade vier Jahre her, als der Start-up-Gründer und Maschinen­bau­ingenieur Peter Heiligensetzer den ersten Protoypen vorstellte. Als technisches Korrektiv gegen ein globales Problem: Fast jeder vierte Mensch auf der Welt hat mit chronischen Rücken­schmerzen zu kämpfen. Mittlerweile ist Cray X in der fünften Generation und nicht nur bei Logistikern wie DPD im Einsatz.

Monteur:innen bei Reifen Müller können mit Hilfe des Robo-Rucksacks gewichtige Auto­reifen wechseln, ohne sich dabei zu über­anstrengen, und Gepäck-Mitarbeitende am Flughafen Stuttgart schwere Koffer entspannter auf die Gepäck­bänder hieven. Eine Entlastung, die sich auch im Alltag der Arbeits­kräfte bemerkbar macht, sagt Geman-Bionic-Pressesprecher Eric Eitel. „Ein Flughafen-Mitarbeiter in Stuttgart hat uns gesagt: Seit er mit dem Exo­skelett arbeite, könne er abends wieder seine Tochter hochwerfen. Das ging vorher nicht“.

In der aktuellen Generation erleichtert das Exo­skelett dabei erstmals auch die täglichen Laufwege. Operiert also als eine Art E-Bike zum Anschnallen: Man geht los und die Motoren schieben mit. „Logistiker:innen laufen bis zu zwölf Kilometer am Tag. Und wenn das Exo­skelett ihnen davon fünf Kilometer abnehmen kann, spürt man das auch am Ende des Tages“, sagt Software-Chefin Steller.

Aus Daten­punkten Bewegungs­muster erkennen

Der Anspruch der Entwickler:innen: Ein Exo­skelett zu entwickeln, das für möglichst viele Menschen unter­schied­lichster Größen und Körper­formen passt – und sich dabei individuell auf sie einstellt. Beim ersten Probelauf zeichnet Cray X dazu zunächst das Bewegungs­muster der Träger:innen auf. „Ein Mensch hebt vielleicht eher mit einer kleinen Rotation der linken Hüfte. Dann müssen entsprechend die Motoren unter­schiedlich angesteuert werden“, erklärt Steller. Solche Nuancen seien entscheidend für ein reibungs­loses Miteinander von Mensch und Technik. „Und die Algorithmen dahinter entwickeln wir kontinuierlich weiter und haben so auch die Möglichkeit, unter­schiedlichste Anwendungs­fälle zu unter­stützen“. Aus Sensordaten aber tatsächlich Bewegungs­muster abzuleiten, war ein weiter Weg für die Entwickler:innen. „In der Anfangszeit haben wir in unseren Laboren zahllose Testläufe absolviert, um vermeintliche Kleinig­keiten wie einen versetzten Stand in den Daten erkennen zu können“.

Die Algorithmen dahinter entwickeln wir kontinuierlich weiter und haben so auch die Möglichkeit, unterschiedlichste Anwendungs­fälle zu unter­stützen.

Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronik­entwicklung bei German Bionic

Heute könne die Innovation auch Ermüdungs­erscheinungen identifizieren. Dazu sind die Geräte mit einer Cloud verbunden, sammeln anonymisierte Daten – um den Nutzenden über ein KI-basiertes Früh­warn­system Tipps und Hinweise zu geben. „Sie empfehlen zum Beispiel, mal fünf Minuten Pause zu machen oder in einem bestimmten Moment die Leistung des Exo­skeletts etwas zu erhöhen“, sagt Presse­sprecher Eric Eitel.

Um die Persönlich­keits­rechte der Nutzenden zu schützten, verwenden die Entwickler:innen dabei keine Kameras und Bild­erkennungs­systeme, in denen KI heute die meiste Routine hat. Und sie setzen auch keine Bio­sensoren ein – können also nicht einfach über Puls, Herzfrequenz oder Haut­widerstand erkennen, ob ein Nutzender müde ist. Norma Steller und ihre Kolleg:innen mussten bei der Muster­erkennung ihrer KI daher neue Wege gehen. „Und bislang sehen wir uns in unseren Ansätzen bestätigt“, sagt Steller nicht ohne Stolz.

Auch Pflegende schleppen schwer

Natürlich haben nicht nur Arbeiter:innen in der Industrie oder Logistik schwer zu tragen. Pflege­kräfte etwa müssen täglich größere Lasten bewegen als Menschen auf dem Bau. Seit Anfang 2021 wird das Exo­skelett daher im Rahmen eines Forschungs­projekts an der Berliner Charité getestet. Die Heraus­forderung dabei: Die Tätigkeiten und speziellen Handgriffe von Pflegenden sind komplexer und vielfältiger als in der Logistik. „Entsprechend mussten wir die Mechanik und vor allem die Software des Exo­skeletts anpassen“, sagt Norma Steller. Ein weiterer Unterschied zur Logistik-Halle: Während dort größten­teils Männer arbeiten, sind es in Pflege­berufen bekanntermaßen eher Frauen. Und weil deren Körper­schwerpunkt im unteren Rücken statt im Schulter­bereich liegt, haben sie auch andere Bewegungs­muster. „Auch hier kommen uns unsere offenen Algorithmen zugute, die sich auf unter­schiedliche Körpertypen einstellen können“, betont Steller.

Überhaupt könnten Exoskelette künftig im Leben von immer mehr Menschen eine tragende Rolle spielen. Ob als gelenk­stabil­isierende Unter­stützung im Sportbereich oder über Robo-Rucksäcke, die passionierte Heimwerker:innen im Baumarkt mieten können, um sich beim Ausschachten des Garten­teichs keinen Bruch zu heben. Und nicht zuletzt als elektronische Stütze im Alter, wenn Gelenke, Muskeln und Ausdauer abbauen. „Mit einem Exo­skelett könnte ich dann etwa immer noch meine gewohnte Wander­strecke laufen“, stellt Norma Steller in Aussicht.

In zehn Jahren dürften Exoskelette ein selbst­verständ­licher Teil unseres Alltags sein, ist sich die Software-Expertin sicher: „Wann immer Menschen ihre Fähigkeiten verbessern konnten, haben sie es auch getan“. Exo­skelette sind insofern auch nichts anderes als Brillen oder Herz­schritt­macher – gut erdachte Geräte, um unseren eigenen Fähigkeiten etwas auf die Sprünge zu helfen.