Nie wieder Rücken
Menschen im Handwerk, der Logistik oder der Altenpflege bewegen täglich Tonnen. Die Folge: Überlastung und Rückenschmerzen. Die Exoskelette von German Bionic packen mit an. Und werden dank maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz immer besser.
Abertausend Päckchen und Pakete laufen tagtäglich im DPD-Logistikzentrum Malsch bei Karlsruhe auf. Sie gelangen zumeist vollautomatisch von A nach B, doch beim Entladen von Lkw und Containern müssen die Mitarbeitenden Hand anlegen. Jedes der Pakete bringt 26 Kilo auf die Waage – eine immense körperliche Belastung. Doch dank einer Art gelbem Rucksack, den die Beschäftigten auf dem Rücken tragen, geht die Arbeit mittlerweile deutlich leichter von der Hand. Der Hightech-Rucksack hört auf den Namen Cray X und ist ein Exoskelett, das German Bionic aus Augsburg entwickelt hat.
Je unergonomischer ich hebe – etwa weil ich müde bin oder mich mein Arbeitsplatz in eine Zwangshaltung bringt – desto stärker unterstützt mich das Exoskelett.
Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronikentwicklung bei German Bionic
Sein Tragegestell ist mit Sensoren bestückt, die Hebebewegungen erkennen. Motoren auf Hüfthöhe bewegen dann den Oberkörper an den Schultern nach oben. „Das Gerät fühlt sich an, als ob man von jemandem unterstützend hochgezogen wird“, beschreibt Hendrik Schreiber, Schichtleiter bei DPD. „Das entlastet die untere Wirbelsäule und schützt vor Bandscheibenvorfällen“, ergänzt Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronikentwicklung bei German Bionic. Bis zu 30 Kilo fängt das Cray X pro Hebebewegung ab. Und korrigiert dabei auch rückengefährdende Bewegungen. „Je unergonomischer ich hebe, etwa weil ich müde bin oder mich mein Arbeitsplatz in eine Zwangshaltung bringt, desto stärker unterstützt mich das Exoskelett“, erklärt die Software-Ingenieurin.
Norma Steller ist CPO beim Robotikhersteller German Bionic, dem globalen Technologieführer von aktiven, vernetzten Exoskeletten in der Arbeitswelt. Zuvor war sie nach einem interdisziplinären Studium der Logistik, Wirtschaftsinformatik und Soziologie in Magdeburg und Cork bereits viele Jahre als Product- und Engineering-Manager in Berlin tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind KI-basierte Software und das industrielle IoT.
Ein E-Bike zum Anschnallen
Es ist gerade vier Jahre her, als der Start-up-Gründer und Maschinenbauingenieur Peter Heiligensetzer den ersten Protoypen vorstellte. Als technisches Korrektiv gegen ein globales Problem: Fast jeder vierte Mensch auf der Welt hat mit chronischen Rückenschmerzen zu kämpfen. Mittlerweile ist Cray X in der fünften Generation und nicht nur bei Logistikern wie DPD im Einsatz.
Monteur:innen bei Reifen Müller können mit Hilfe des Robo-Rucksacks gewichtige Autoreifen wechseln, ohne sich dabei zu überanstrengen, und Gepäck-Mitarbeitende am Flughafen Stuttgart schwere Koffer entspannter auf die Gepäckbänder hieven. Eine Entlastung, die sich auch im Alltag der Arbeitskräfte bemerkbar macht, sagt Geman-Bionic-Pressesprecher Eric Eitel. „Ein Flughafen-Mitarbeiter in Stuttgart hat uns gesagt: Seit er mit dem Exoskelett arbeite, könne er abends wieder seine Tochter hochwerfen. Das ging vorher nicht“.
In der aktuellen Generation erleichtert das Exoskelett dabei erstmals auch die täglichen Laufwege. Operiert also als eine Art E-Bike zum Anschnallen: Man geht los und die Motoren schieben mit. „Logistiker:innen laufen bis zu zwölf Kilometer am Tag. Und wenn das Exoskelett ihnen davon fünf Kilometer abnehmen kann, spürt man das auch am Ende des Tages“, sagt Software-Chefin Steller.
Aus Datenpunkten Bewegungsmuster erkennen
Der Anspruch der Entwickler:innen: Ein Exoskelett zu entwickeln, das für möglichst viele Menschen unterschiedlichster Größen und Körperformen passt – und sich dabei individuell auf sie einstellt. Beim ersten Probelauf zeichnet Cray X dazu zunächst das Bewegungsmuster der Träger:innen auf. „Ein Mensch hebt vielleicht eher mit einer kleinen Rotation der linken Hüfte. Dann müssen entsprechend die Motoren unterschiedlich angesteuert werden“, erklärt Steller. Solche Nuancen seien entscheidend für ein reibungsloses Miteinander von Mensch und Technik. „Und die Algorithmen dahinter entwickeln wir kontinuierlich weiter und haben so auch die Möglichkeit, unterschiedlichste Anwendungsfälle zu unterstützen“. Aus Sensordaten aber tatsächlich Bewegungsmuster abzuleiten, war ein weiter Weg für die Entwickler:innen. „In der Anfangszeit haben wir in unseren Laboren zahllose Testläufe absolviert, um vermeintliche Kleinigkeiten wie einen versetzten Stand in den Daten erkennen zu können“.
Die Algorithmen dahinter entwickeln wir kontinuierlich weiter und haben so auch die Möglichkeit, unterschiedlichste Anwendungsfälle zu unterstützen.
Norma Steller, verantwortlich für die Software- und Elektronikentwicklung bei German Bionic
Heute könne die Innovation auch Ermüdungserscheinungen identifizieren. Dazu sind die Geräte mit einer Cloud verbunden, sammeln anonymisierte Daten – um den Nutzenden über ein KI-basiertes Frühwarnsystem Tipps und Hinweise zu geben. „Sie empfehlen zum Beispiel, mal fünf Minuten Pause zu machen oder in einem bestimmten Moment die Leistung des Exoskeletts etwas zu erhöhen“, sagt Pressesprecher Eric Eitel.
Um die Persönlichkeitsrechte der Nutzenden zu schützten, verwenden die Entwickler:innen dabei keine Kameras und Bilderkennungssysteme, in denen KI heute die meiste Routine hat. Und sie setzen auch keine Biosensoren ein – können also nicht einfach über Puls, Herzfrequenz oder Hautwiderstand erkennen, ob ein Nutzender müde ist. Norma Steller und ihre Kolleg:innen mussten bei der Mustererkennung ihrer KI daher neue Wege gehen. „Und bislang sehen wir uns in unseren Ansätzen bestätigt“, sagt Steller nicht ohne Stolz.
Auch Pflegende schleppen schwer
Natürlich haben nicht nur Arbeiter:innen in der Industrie oder Logistik schwer zu tragen. Pflegekräfte etwa müssen täglich größere Lasten bewegen als Menschen auf dem Bau. Seit Anfang 2021 wird das Exoskelett daher im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Berliner Charité getestet. Die Herausforderung dabei: Die Tätigkeiten und speziellen Handgriffe von Pflegenden sind komplexer und vielfältiger als in der Logistik. „Entsprechend mussten wir die Mechanik und vor allem die Software des Exoskeletts anpassen“, sagt Norma Steller. Ein weiterer Unterschied zur Logistik-Halle: Während dort größtenteils Männer arbeiten, sind es in Pflegeberufen bekanntermaßen eher Frauen. Und weil deren Körperschwerpunkt im unteren Rücken statt im Schulterbereich liegt, haben sie auch andere Bewegungsmuster. „Auch hier kommen uns unsere offenen Algorithmen zugute, die sich auf unterschiedliche Körpertypen einstellen können“, betont Steller.
Überhaupt könnten Exoskelette künftig im Leben von immer mehr Menschen eine tragende Rolle spielen. Ob als gelenkstabilisierende Unterstützung im Sportbereich oder über Robo-Rucksäcke, die passionierte Heimwerker:innen im Baumarkt mieten können, um sich beim Ausschachten des Gartenteichs keinen Bruch zu heben. Und nicht zuletzt als elektronische Stütze im Alter, wenn Gelenke, Muskeln und Ausdauer abbauen. „Mit einem Exoskelett könnte ich dann etwa immer noch meine gewohnte Wanderstrecke laufen“, stellt Norma Steller in Aussicht.
In zehn Jahren dürften Exoskelette ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags sein, ist sich die Software-Expertin sicher: „Wann immer Menschen ihre Fähigkeiten verbessern konnten, haben sie es auch getan“. Exoskelette sind insofern auch nichts anderes als Brillen oder Herzschrittmacher – gut erdachte Geräte, um unseren eigenen Fähigkeiten etwas auf die Sprünge zu helfen.