Ausgekriselt
ZEIT RedaktionWie kann man motiviert bleiben und andere motivieren, wenn eine Krise die nächste jagt? Fünf Rezepte von Orafol, das vom DDR-Betrieb zum Weltkonzern aufstieg
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 1/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.
Riesengroße Folienrollen säumen die eine Seite der Halle, auf der anderen lärmt die hochautomatisierte Produktionsstraße: Es wird beschichtet, kaschiert und zugeschnitten. Jeden Samstag läuft Holger Loclair durch diese und die weiteren Hallen, spricht mit den Mitarbeitern, in der Hand ein Notizbuch. Wenn sich der 73-Jährige etwas notiert, hört er sie tuscheln. „Ja, ich weiß, mein Büchlein wird manchmal kritisch gesehen“, sagt der Firmenchef später und schmunzelt. Aber es sei nun mal so, er sei ein Ordnungsliebhaber. Die Hallen müssen aufgeräumt sein, die Arbeitsabläufe den technischen Vorgaben entsprechen.
Wer in Europa auf ein Verkehrszeichen oder Hinweisschild blickt, schaut mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Spezialfolie aus Oranienburg. Diese finden sich weltweit auch auf Flugzeugen und Schiffen oder werden auf Kreditkarten und Reisepässe gepresst. Eine Million Meter Material können am Stammsitz des Industrieunternehmens Orafol täglich produziert werden.
Die Gruppe ist zum Weltmarktführer avanciert, produziert international und legte 2022 mit fast 870 Millionen Euro Umsatz das erfolgreichste Geschäftsjahr seiner wechselvollen Firmengeschichte hin. Laut seinen Geschäftsberichten erzielte es in den vergangenen Jahren auch ordentliche Gewinne, die Eigenkapitalquote liegt bei 75 Prozent. Kerngesund also.
Dieser Erfolg steht in sonderbarem Kontrast zur bedrückenden Stimmung im Land. Die Pandemie, die Energiekrise, die Inflation, die geopolitische Lage – eine Krise folgt auf die nächste. Das Mittelstandsbarometer der KfW sank im Januar auf den niedrigsten Stand seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Deutschland ist erschöpft. Die Motivation sinkt, die Veränderungsbereitschaft bröckelt, Burn-out-Raten steigen. Hinzu kommen Trends wie die künstliche Intelligenz oder die Viertagewoche und Auflagen wie das Lieferkettengesetz. Nachhaltiger, agiler, digitaler: Überall dröhnt die Forderung nach Veränderung. Wie gelingt es Loclair, seine Mitarbeiter bei Orafol in diesen Zeiten zu Höchstleistungen zu motivieren?
Die Firmenzentrale nordöstlich der Oranienburger Innenstadt erinnert eher an eine Wellnessoase als an produzierende Industrie: Leise plätschert ein Brunnen, warmes Licht verbindet sich mit dem Tageslicht, das durch die Glasdecke fällt, Malereien säumen die Etagen des Atriums, des Entrées zur Hauptverwaltung. Mehrere Tausend Pflanzentöpfe hängen an der Wand. Hier konzipieren, entwickeln und forschen rund 500 Menschen. Im zweiten Stock sitzt Jan Raether in seinem Büro. Er ist als Werkleiter für Wohl und Wehe der rund 800 Produktionsmitarbeiter verantwortlich, die in den Hallen arbeiten. Der 41-Jährige blickt durch bodentiefe Fenster über das Gelände, auf Bäume, Büsche, Grünflächen – die Leute sollen sich wohlfühlen, Pause im Grünen machen können.
1. Nahbar sein, ohne es sein zu müssen
„Ich kann niemanden motivieren“, meint Raether. „Motivieren kann man sich nur selbst.“ Aber er könne die Grundlage dafür schaffen, dass es seiner Mannschaft gut gehe. Das Telefon des Managers vibriert. „Der Chef“, sagt er und hebt ab. „Guten Morgen, Holger.“ Vor einem Jahr hat Loclair ihm das Du angeboten. Für Raether eine besondere Form der Wertschätzung. Sie telefonieren mehrmals täglich, Loclair erfragt den Stand der Produktion, um Probleme frühzeitig abzusehen.
Loclair möchte wissen, was die Arbeiter an den Maschinen umtreibt. Bei seinen wöchentlichen Runden durch die Produktion – die große dauert zweieinhalb Stunden – tragen die Mitarbeiter dem promovierten Chemiker ihre Anliegen vor. Drei Dinge wird er oft gefragt: Wie geht es der Firma? Welche Investitionen sind geplant? Was bedeutet das für mich?
Sich einbezogen zu fühlen, ist wichtig für die Mitarbeiterzufriedenheit, zeigt die Forschung. „Menschen geht es schlecht, wenn sie nur auf die Ausführung reduziert werden“, sagt Ute Stephan, Professorin für Entrepreneurship an der King’s Business School in London. Sie wollen aktiv mitgestalten. Selbstwirksamkeit als Motivator also.
2. Neues wagen, bevor es notwendig ist
Holger Loclair ist sieben Tage in der Woche vor Ort im Betrieb. „Es macht mir Spaß, das spüren die Leute, und das spornt mich an“, sagt der Firmenchef, dem 99 Prozent der Anteile an Orafol gehören. „Ich wollte aus diesem Unternehmen immer etwas Besonderes machen.“ Schon zu DDR-Zeiten.
Loclair steigt 1977 mit 26 Jahren als Mitarbeiter in der Forschung des verstaatlichten Unternehmens VEB Spezialfarben Oranienburg ein und arbeitet sich zum Betriebsdirektor der Foliensparte hoch, die später unter dem Namen Orafol geführt wird. Schon vor dem Mauerfall spürt er, dass der Betrieb einen Sprung in die Marktwirtschaft nur mit der nötigen technologischen Grundlage schaffen kann. Loclair setzt alles auf den Kauf einer speziellen Beschichtungsmaschine. Die ebnet Orafol den Weg zur globalen Vorreiterrolle, wenn es darum geht, Kunststoffe herzustellen und zu veredeln. 1991 privatisiert er den Betrieb, überbrückt den schwierigen Start mit Krediten und findet einen Geschäftspartner in Westberlin. Damals beschäftigt Orafol gut 60 Mitarbeiter. Heute sind es weltweit 2800.
3. Diversifizieren, bevor die Krise da ist
„Wir haben alle Krisen bislang sauber gemeistert“, sagt Loclair und meint damit unter anderem die Finanzkrise, Corona, Gaslieferengpässe, Lieferkettenabrisse und hohe Energiepreise. Während der Pandemie etwa brach der Absatz von Industrieklebebändern für die Automobilproduktion ein. Stattdessen boomte das Geschäft mit Folien für Schutzmasken. Kurzerhand entwickelte das Unternehmen neue Produkte rund um Absperrgitter, Uniformen und Einsatzfahrzeuge. Vom russischen Erdgas machte man sich durch ein Flüssiggastanklager auf dem Betriebsgelände unabhängig.
Als so motiviert schätzten sich zu Jahresbeginn die Chefinnen und Chefs ein, die ZEIT für Unternehmer lesen …
sehr motiviert: 54 %
etwas motoviert: 27 %
eher unmotviert: 17 %
sehr unmotiviert: 2 %
… und als so motiviert erlebten sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Umfrage ist nicht repräsentativ
sehr motiviert: 35 %
etwas motoviert: 48 %
eher unmotviert: 15 %
sehr unmotiviert: 3 %
4. Investieren, statt nur zu reagieren
Siegrun Brink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mittelstandsforschung Bonn und beschäftigt sich mit der Widerstandsfähigkeit von Unternehmen. „Nur weil ein Unternehmen eine Krise meistert, heißt das nicht, dass es durch alle Krisen kommt“, sagt Brink. Resilienz hänge vom Geschäftsmodell und vom Umfeld ab – und von der Unternehmerpersönlichkeit. Aus diesem Dreiklang entstehe der Handlungsspielraum in einer Krise. Es kommt also darauf an, wie innovativ, lösungsorientiert und flexibel ein Unternehmer ist.
Holger Loclair investiert beständig in die Zukunft: 160 Millionen zwischen 2022 und 2024 allein in Oranienburg. Und fast genauso viel an den sechs Produktionsstandorten in den USA. Die Produktion soll auf verschiedenen Kontinenten für sich allein funktionieren. Das Einzige, wogegen er nicht anzukommen scheint, ist die deutsche Bürokratie. Genehmigungen, auf die er hier Jahre warte, würde er in den USA binnen vier Wochen bekommen. Deshalb investiere er auch besonders gern dort. Loclair sagt: „Ich habe das Gefühl, wir als Chemieunternehmen sind hier nicht mehr erwünscht.“
Auch Werkleiter Raether ist so oft er kann in den Hallen unterwegs. Zwei Dinge wünschen sich die Produktionsmitarbeiter immer wieder: mehr Geld und mehr Freizeit. Es werde übertariflich entlohnt, inklusive mindestens 30 Tage Urlaub, gibt die Pressestelle durch.
Geld sei allerdings nur bis zu einem gewissen Grad motivierend, sagt die Psychologin Ute Stephan. Was auch anspornt: Weiterbildung, neue Aufgaben und Lob, und zwar möglichst spezifisch! Oder einen Extra-Tag frei gewähren, wenn ein großes Ziel erreicht wurde.
5. Flexibilisieren, statt nur mehr zu bezahlen
Catherine Loclair sieht aber auch eine Herausforderung darin, mehr Freiräume zu gewähren. Die 46-jährige Tochter des Firmenchefs hat an einem riesigen Konferenztisch im vierten Stock Platz genommen und berichtet, wie sie vor zwölf Jahren begann, die Personalabteilung aufzubauen. Orafol solle ein durchlässiges Unternehmen sein, sagt sie. Eine Mitarbeiterin etwa, die in der Konfektionierung gearbeitet hat und dort unglücklich war, sei aufgeblüht, seit sie in der Logistikabteilung arbeite. Orafol bemühe sich, individuelle Lösungen für Mitarbeiter zu finden, etwa wenn Eltern gepflegt werden müssen und die Schichtarbeit nur eingeschränkt möglich ist.
Allerdings: Die Maschinen stehen nie still, es gibt Schichtbetrieb und Nachtarbeit. Ein Mitarbeiter schlug vor drei Jahren einen Fünfschichtbetrieb vor: eine Person mehr, dafür durchschnittlich 33,5 Wochenstunden statt 40 und auch mal vier statt zwei Tage frei. Für weniger Lohn, versteht sich. „Wir würden die Schichtmodelle gern noch flexibler gestalten“, sagt Catherine Loclair, „aber dafür brauchen auch wir mehr Leute, und die fehlen auf dem Arbeitsmarkt leider.“ Die Juristin konzentriert sich deswegen darauf, Mitarbeiter zu halten. „Mitarbeiterbindung ist das beste Recruiting“, sagt sie.
Was sie selbst motiviere? „Zahlen“, sagt Catherine Loclair. „Denn sie geben uns recht.“ Die Fluktuation bei Orafol liegt mit zehn Prozent unter dem Branchendurchschnitt der verarbeitenden Industrie von rund zwanzig Prozent. Wenn das so bleibt, dann könnte Orafol bald sein nächstes Ziel erreichen: 2025 soll die Umsatzmilliarde geknackt werden.