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Kiste mit Äpfeln

„Ich verstehe unter Rendite deutlich mehr als finanziellen Gewinn.“

03. August 2022
ZEIT Redaktion

Welche Netzwerke bilden Unternehmerinnen und Unternehmer? Jeden Monat stellen wir Ihnen hier eine Persönlichkeit vor, die Fragen eines anderen Unternehmers beantwortet – und dann einer anderen Unternehmerin selbst welche stellt.

In dieser Folge beantwortet Christian Hiß die Fragen von Tina Andres, Geschäfts­führerin der Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft Landwege und Chefin des Bundes Ökologische Lebens­mittel­wirtschaft (BÖLW).

Christian Hiß ist gelernter Gärtner­meister und gründete erst eine Bio-Gärtnerei und später in Freiburg die Bürger­aktien­gesellschaft Regionalwert AG. Im Gespräch erläutert er, wie sein Unter­nehmens­konzept funktioniert, und plädiert für eine neue Art der Buchhaltung.

Herr Hiß, Sie haben mit der Regionalwert AG Bürger­aktien­gesell­schaft vor über 15 Jahren im Raum Freiburg ein Unternehmen gegründet, das mittlerweile in anderen Regionen vielfach Nachahmung findet. Was ist der Zweck dieses zivil­gesell­schaftlichen Unternehmens?

Christian Hiß: Wir wollen resiliente Wert­schöpfungs­räume aufbauen, um Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen.

Und was bedeutet das konkret?

Wir geben den Bürgerinnen und Bürgern die Gelegenheit, sich zum Beispiel an Betrieben in ihrer Gegend zu beteiligen, die Obst und Gemüse anbauen, mit Naturkost handeln oder Menschen damit versorgen. So ermöglichen wir es, die Wert­schöpfungs­ketten vollständig in einer Region zu entwickeln und zu unterhalten. Dieses Modell ist nicht nur nachhaltig, es ermöglicht auch Unabhängigkeit. Wir erleben ja gerade schmerzhaft, wie anfällig die weltweiten Liefer­ketten sind und wie der Handel mit Getreide politisch instrumentalisiert wird.

Tina Anders und Christian Hieß
© BioVerlag, Regionalwert AG Tina Andres, Geschäftsführerin der Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft Landwege und Chefin des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Christian Hiß, gelernter Gärtnermeister, gründete erst eine Bio-Gärtnerei und später die Bürgeraktiengesellschaft Regionalwert AG.

Geht es Ihnen und den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern darum, Rendite zu erzielen?

Ja, aber ich verstehe unter Rendite deutlich mehr als finanziellen Gewinn. Auch Versorgungs­sicherheit ist beispielsweise eine Rendite, von der die Menschen profitieren, die sich an unseren Bürger­aktien­gesell­schaften beteiligen. Und wir haben ein System entwickelt, wie wir diese Rendite auch beziffern können.

In Ihrem Buch „Richtig rechnen!“ plädieren Sie dafür, die Finanz­buch­haltung so zu reformieren, dass eine ökologisch-ökonomische Wende möglich wird. Was meinen Sie damit?

Erst mal ist mir wichtig: Ich bin seit 40 Jahren Unternehmer, und ich lege viel Wert auf betriebs­wirt­schaftliches Know-how. Aber ich bin überzeugt, dass ein Treiber der Wende zu mehr Nach­haltigkeit eine zeitgemäßere betriebliche Erfolgs­rechnung ist, also die Art, wie wir buchhalten und bilanzieren.

Können Sie das einem Beispiel erklären?

Wer klassisch kalkuliert, kauft möglichst billig ein und beutet seine Ressourcen aus, anstatt in sie zu investieren. Wer dagegen ökologische und regional­ökonomische Leistungs­faktoren in seiner Bilanz berücksichtigt und zum Beispiel den Boden als Betriebs­vermögen ansetzt, wird darauf achten, dessen Frucht­barkeit zu erhalten. Und Auszubildende einzustellen ist dann eine Investition ins Fachwissen, das ebenfalls zum Betriebs­vermögen gerechnet wird. Es gibt 300 solcher Leistungs­faktoren, die man aus meiner Sicht buch­halterisch einbeziehen müsste.

Wird Ihrer Forderung nach einer solchen Bilanzierung Gehör geschenkt?

Es ist mir anfangs schwer­gefallen, mit dieser Idee in der Fachwelt durchzudringen. Aber das hat sich geändert. Gerade haben wir beispielsweise ein großes Projekt namens QuartaVista mit dem Soft­ware­unternehmen SAP abgeschlossen. Mit dem Projekt haben wir gezeigt , wie sich die neue Bilanzierungs­logik in einer Buch­haltungs­software abbilden lässt. Das ist ein Meilenstein für die Methodik.

Neulich haben Sie in Freiburg auch eine Wissen­schafts­konferenz zu „Sustainable Performance Accounting“ veranstaltet. Was verbirgt sich denn dahinter?

Eine ganze Reihe von Ökonomen und Wissen­schaftlern interessieren sich heute für das sogenannte Sustainable Perfomance Accounting, also die Idee, Nach­haltig­keits­faktoren in den Bilanzen zu berücksichtigen. Und diese Forscher haben wir bei der Konferenz zusammengebracht. Ein Thema war die Frage, wie Unternehmen ihre Energie­versorgung in ihren Bilanzen abbilden können. Wer beispiels­weise sehr von Gas­lieferungen abhängt, geht ein Risiko ein, das er bilanz­technisch erfassen und für das er Rück­stellungen bilden sollte. Dann würden sich Investitionen in erneuerbare Energie­quellen wie Fotovoltaik sofort noch mehr lohnen, weil dafür weniger Rück­stellungen nötig wären.

Sie finden auch, die Landwirtinnen und Landwirte sollten selbstbewusster auftreten und ihre vielfältigen Leistungen für das Gemeinwohl gegenüber der Gesellschaft finanziell geltend machen. Passt die Forderung in eine Zeit, in der die Lebensmittel doch sowieso teurer werden?

Spannende Frage! Ich finde: Ja. Die Landwirtschaft trägt viel zum Gemeinwohl und zur Versorgungs­sicherheit bei. Aber dafür bekommen die Landwirtinnen und Landwirte nichts, in ihren Bilanzen bildet sich dieser Beitrag nur auf der Kostenseite ab – etwa in den Personal­ausgaben und Sachkosten. Sie sollten sich dafür starkmachen, dass ihre Leistungen für die All­gemein­heit auch von der All­gemein­heit finanziell entlohnt werden – und zwar nicht über die Preise ihrer Produkte, sondern durch Geld vom Staat. Anstatt auf die Straße zu gehen, sollten sie die konkrete Abrechnung für die Dienst­leistungen der Gesellschaft vorlegen. Es ist ein Irrtum, dass sich diese Leistungen über die Preise für Eier und Milch honorieren lassen.

Was sind nach Ihrer Auffassung weitere wichtige Hebel für die Transformation zu einer zukunftsfähigen Land- und Ernährungs­wirtschaft?

Ganz wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Betriebe ihre Produktions­mittel – also Arbeitskräfte und Kapital, aber auch Energie, Dünger und Saatgut – aus ihrer Region beziehen und zugleich die Menschen in ihrer Region mit ihren Erträgen versorgen. So entsteht das, was ich regionale Ernährungs­souveränität nenne.

Im Raum Freiburg mag das ja funktionieren, aber andere, beispielsweise sehr trockene Weltregionen sind auf Nahrungs­mittel­importe angewiesen, damit die Menschen dort ausreichend zu essen haben. Ist es nicht sinnvoll, wenn sich Länder auf das spezialisieren, was sie am besten anbauen können, und dann Handel miteinander treiben?

Ich habe keinen naiven Regionalitäts-Begriff. Wir brauchen Arbeits­teilung, zum Beispiel auch bei der Technik: Es wäre nicht nachhaltig, wenn jede Region anfängt, Traktoren herzustellen. Zugleich bin ich aber überzeugt, dass auch weniger fruchtbare Regionen besser bewirtschaftet werden können, wenn dem Regional­prinzip mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde. Und da, wo man über Grenzen von Regionen hinweg liefert, braucht es zumindest mehr Transparenz in den Liefer­ketten.