ZEIT für X
Stress ist ungesund

Schluss mit dem Druck

28. Oktober 2022
ZEIT Redaktion

Der Psychologe und Management-Berater Louis Lewitan gibt Rat, wie man dem Burn-out vorbeugt und die eigene Resilienz steigern kann.

von Louis Lewitan

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2021.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

1. Nehmen Sie sich Ich-Zeit

Das Problem: Unternehmerinnen und Unternehmer sind gefragte Personen, gerade in Krisen. Sie sollen Meetings leiten, verhandeln, entscheiden, vorantreiben. Oft lässt das Tagesgeschäft ihnen kaum Zeit, um die Batterien wieder aufzuladen. So schleppen sie große Probleme oft lange mit sich herum, anstatt sie zeitig zu lösen. Denn um auf neue Gedanken zu kommen, braucht man Zeit für sich selbst. Manche verhalten sich wie die Unternehmerin Frau H., die mich konsultiert hat, als der Stress ihr zu viel wurde. Sie hatte immer ein offenes Ohr für ihre Angestellten, ihre Tür war jederzeit offen, sie nahm sich stets Zeit für andere – und selten für sich selbst. Das brachte sie an den Rand der Erschöpfung.

Mein Rat: Es hat eine Weile gedauert, bis Frau H. im Coaching erkannte, dass sie nicht als Erste kommen und als Letzte gehen muss, um ein Vorbild zu sein – im Gegenteil. Nur indem sie ihre Rolle als Mutter des Betriebs aufgab, konnte sie ihre Rolle als Chefin einnehmen. Wenn Sie in einer ähnlichen Stress-Situation sind, lautet mein Rat: Halten Sie regelmäßig inne! Tragen Sie in Ihrem Kalender gezielt »Ich-Zeit« ein! Grenzen Sie sich regelmäßig für kurze Zeit vom Alltagsgeschehen ab! Sagen sie öfters »Nein«! Delegieren Sie häufiger, und gönnen Sie sich immer wieder kurze Pausen! Definieren Sie Pausen als Teil der Arbeitszeit: Sie ermöglichen es, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Keine Zeit für sich nehmen heißt, sich und andere stressen.

2. Trainieren Sie Ihre Resilienz

Das Problem: Wer ein Unternehmen leitet, verbringt viel Zeit am Schreibtisch, in Meetingräumen und im Auto – und bewegt sich zu wenig. Das ist ungesund. Es kann aber auch schädlich sein, sich zu viel zu bewegen. So ging es dem 56-jährigen Geschäftsführer, der unruhig in meine Sprechstunde kam. Er war überzeugt, er müsse täglich immer größere Runden drehen, um sich fit zu halten und um die eigenen Grenzen zu überwinden. Dabei reduzierte der Sport seinen Stress nicht – er vergrößerte ihn.

Mein Rat: Sport hält gesund und hilft dabei, gedanklich abzuschalten, Dampf abzulassen und eine innere Distanz zum Geschehen zu gewinnen. Mentale Fitness lässt sich nicht allein durch Bewegung erzielen. Als beispielsweise der Mittfünfziger in unserem Gespräch erkannte, dass er selbst beim Sport ein Getriebener war, begann er mit Yoga. Die Kombination aus Laufen und Innehalten erwies sich als richtig, um nicht nur den Körper fit zu halten, sondern gelassen zu bleiben. Wer sich selbst davonläuft, kommt nicht weiter.

3. Schultern Sie den Stress gemeinsam

Das Problem: Obwohl viele Entscheiderinnen und Entscheider moderne Führungsgrundsätze predigen, pflegen sie ein überholtes, rigides Führungsverhalten. Sie sprechen zwar von mitarbeiterorientierter Führung, halten aber an Hierarchien fest. Sie bejahen partizipative Führung, wollen aber letztlich das Sagen haben. Sie sprechen wortgewandt von Leadership im digitalen Zeitalter, doch ihr Denken ist weder flexibel noch ganzheitlich, sondern hierarchisch und starr. Letztlich glauben sie fest daran, die Risiken und die Verantwortung für ihr Unternehmen ganz allein tragen zu müssen – und wundern sich, wenn sie in stressigen Phasen nur halbherzige Lippenbekenntnisse erhalten.

Mein Rat: Wenn Sie erfolgreich sein wollen, dann sorgen Sie dafür, dass sich jeder und jede in Ihrer Firma für das Gesamtergebnis verantwortlich fühlt. Schaffen Sie ein Klima der Wertschätzung, Offenheit und Raum für Autonomie. Sie müssen nicht in alle Entscheidungen eingebunden sein. Mikromanagement verhindert Weitsicht.

4. Geben Sie Feedback, und holen Sie Feedback ein

Das Problem: Wenn er nicht auf den Rat seiner Ehefrau gehört und das Gespräch mit mir gesucht hätte, dann würde der Unternehmer seine Mitarbeiter vermutlich immer noch vor versammelter Mannschaft anraunzen – und dann die Tür hinter sich zuknallen. Er zog es vor, Härte zu demonstrieren, anstatt die Leute um sich zu fordern und zu fördern. Sein herrschaftliches Führungsverhalten ist leider nicht außergewöhnlich. Viele Personen in Führungspositionen schätzen weder Kritik noch Widerspruch.

Mein Rat: Ich habe dem Coachee empfohlen, eine Mitarbeiterbefragung durchzuführen. Seitdem erhalten er und die Führungsriege halbjährlich ein Feedback, das als Ansporn dient, sich weiterzuentwickeln. Umgeben Sie sich mit selbstsicheren Führungskräften, die sich trauen, ihre Meinung klar und konstruktiv auszudrücken, die kritische Rückmeldungen geben und auch einfordern. Wer souverän ist, umgibt sich nicht mit Ja-Sagern.

5. Setzen Sie Gefühle wohldosiert ein

Das Problem: Viele Entscheider definieren sich als Kopfmenschen. Sie rühmen sich ihrer analytischen Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu durchleuchten, die richtigen Prioritäten zu setzen und rationale Entscheidungen zu treffen. Sie reden das Thema Emotionen klein, weil sie sich unsicher fühlen. Gefühle außer Acht zu lassen erweist sich jedoch als sträflich, denn allein mit Excel-Tabellen lässt sich niemand motivieren. Auch mein Coachee namens M., der als Finanzvorstand in dem Unternehmen seines Vaters arbeitete, vermochte das nicht.

Mein Rat: In einem Kommunikationstraining wurde sich mein Coachee seiner abweisenden Körpersprache und seines monotonen Kommunikationsstils bewusst. Er musste allerdings lange üben, um genug Selbstvertrauen aufzubauen und frei und spontan kurze Reden vor versammelter Mannschaft abzuhalten. Er verstand mit der Zeit: Führen heißt nicht predigen, sondern überzeugen. Und dafür braucht es Emotionen. Richtig dosiert, wirken sie Wunder. Achten Sie also darauf, wie sie mit Emotionen umgehen, wie Sie auftreten, kommunizieren und motivieren.

6. Reflektieren Sie, was Sie tun

Das Problem: Ob Strategie, Logistik oder Beschaffungsprozesse, innovative Unternehmerinnen und Unternehmer sind willens, alles zu hinterfragen. Sie stellen Strukturen und Prozesse auf den Prüfstand, sie sind Profis für Sachfragen. Eher gering ist dagegen ihre Bereitschaft und Motivation, über sich selbst und ihre Führung gründlich nachzudenken. Erfolg verleitet nicht selten zur Selbstüberschätzung.

Mein Rat: Wenn es um Selbstreflexion geht, fällt mir der 32-Jährige ein, den ich vor einiger Zeit gecoacht habe. Er war das einzige Kind eines Unternehmers und künstlerisch begabt. Doch als sein Vater an Krebs erkrankte, sollte er die Familienfirma übernehmen. Er musste dafür nicht nur seine Musikerkarriere aufgeben, ihn lähmte auch die Angst, den Ansprüchen und Erwartungen des erfolgreichen Seniors nicht zu genügen. Im Verlauf des Coachings wurde ihm klar, dass er, aus Angst zu versagen, sich dafür entschieden hatte, seinen »Übervater« nachzuahmen, anstatt einen frischen Wind in das Unternehmen zu bringen. Die Gespräche ermutigten ihn, die längst erforderliche Erneuerung anzugehen.

7. Nehmen Sie Rat an

Das Problem: Der Grund für die junge Unternehmerin, mich aufzusuchen, war nicht ungewöhnlich: Ihr Vater mische überall mit, sein langer Schatten reiche weit in das Tagesgeschehen hinein. Unternehmer sind oft davon überzeugt, vieles am besten zu wissen – und zu können. Das funktioniert, solange ihnen der Erfolg recht gibt. In schwierigen Phasen dagegen fällt es ihnen schwer, ihre Sorgen zu teilen. Nicht selten ist die einzige Person, von der sie Ratschläge annehmen, der Ehepartner. Dem fehlt jedoch der professionelle Blick und ein ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz.

Mein Rat: Ein unabhängiger, professioneller Blick von außen hilft, die eigenen blinden Flecken zu erkennen. So bedurfte es mehrerer Sitzungen, um den Senior zu überzeugen, gemeinsam mit der Tochter die Rollen, Verantwortlichkeiten und Prozesse klar zu bestimmen. Immerhin. Aber als die Tochter den Vater aufforderte, ihr wie versprochen, sein Arbeitszimmer zur Verfügung zu stellen, brach der Konflikt erneut aus.

Der renommierte Stress-Experte und Buchautor Louis Lewitan berät seit über 30 Jahren Führungspersönlichkeiten in Unternehmen, auch im ZEIT-Verlag