Jenseits aller Fakten
Ein interdisziplinäres Forschungsteam hat das Buch „Desinformation aufdecken und bekämpfen“ herausgebracht. Hier lesen Sie fünf Tipps für das Erkennen von Falschinformationen.
Fake, der Fake eines Fakes – oder doch bloß die Wahrheit? Im Jahr 2015 tauchte ein Video auf, das den damaligen Finanzminister Griechenlands, Yanis Varoufakis, mit Stinkefinger zeigte. Satiriker Jan Böhmermann behauptete kurze Zeit später, das Video gefälscht und die obszöne Geste hineinmontiert zu haben. Viele deutsche Medien fielen darauf herein. Dabei wollte der Satire-Coup lediglich dazu anregen, die Rolle der Berichterstattung in Zeiten der damaligen Griechenlandkrise zu hinterfragen.
Dies ist also sieben Jahre her, und man könnte meinen, Falschinformationen haben inzwischen Hochkonjunktur. Sei es im Zuge der Coronapandemie oder in der Rechtfertigungsstrategie Russlands für den kriegerischen Angriff auf die Ukraine: Überall kursieren abstruseste Verschwörungsmythen. So wird etwa behauptet, mRNA-Impfstoffe machten unfruchtbar und ein renommiertes Hamburger Tropeninstitut würde gemeinsam mit der Ukraine an tödlichen Biowaffen tüfteln.
Social Media ist Treiber von Desinformation
„Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich eine Zunahme der Desinformation oder vielmehr eine Beschleunigung der Verbreitung ist“, sagt Martin Steinebach, der am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) die Abteilung für Mediensicherheit und IT-Forensik leitet. Facebook, YouTube, WhatsApp: Allein die drei beliebtesten sozialen Netzwerke vereinen weltweit mehrere Milliarden Nutzer:innen. Binnen eines Jahres, von Januar 2021 bis Januar 2022, ist laut Statista die Anzahl der Menschen, die in sozialen Netzwerken unterwegs sind, um rund zehn Prozent gestiegen – auf 4,62 Milliarden. Dass damit auch die Verbreitung von Falschnachrichten rasant zunimmt, liegt nahe. Und dass das eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein Nährboden für die Radikalisierung von Einzelnen sein kann, zeigt die Studie „Desinformation in Deutschland“ der Vodafone Stiftung.
Die Mechanismen von Desinformationen und die dahinterliegenden Machtstrukturen aufzudecken ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber auch der Forschung.
Michael Kreutzer
Auch die Wissenschaft geht dem Phänomen auf den Grund: In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „DORIAN – Desinformation im Internet aufdecken und bekämpfen“ hat ein interdisziplinäres Forschungsteam das Thema systematisch untersucht. „Die Mechanismen von Desinformationen und die dahinterliegenden Machtstrukturen aufzudecken ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber auch der Forschung“, so Projektkoordinator Michael Kreutzer.
Was bedeutet was? Begriffserklärungen
Wichtige Ergebnisse des „DORIAN“-Projekts sind 2020 im Buch „Desinformation aufdecken und bekämpfen“ erschienen. Hier hat ZEIT für Forschung einmal fünf handfeste Tipps, wie man Falschinformationen entlarvt, für Sie zusammengefasst.
Fünf Tipps, wie Sie Desinformationen erkennen können
Textzusammenhang prüfen
Stimmt die Überschrift mit dem Nachrichtentext überein? Ist der gesamte Text der Meldung in sich widerspruchsfrei? „Texte, die Desinformationen enthalten, haben häufig reißerische Überschriften, deren Aussage nicht oder ungenügend im ‚Nachrichtentext‘ aufgegriffen wird. Im Text sollte man auf nicht nachvollziehbare Rückschlüsse und aus dem Kontext gerissene Aussagen achten“, rät IT-Experte Martin Steinebach, Mitherausgeber des Buchs.
Fakten kritisch gegenüberstehen
Passt die eventuell reißerische und emotionale Darstellung mit den bislang bekannten Fakten zusammen? Geben die Quellenlinks verlässliche Hinweise auf die dargebotenen Fakten? „Vorsicht ist angebracht, wenn der Eindruck entsteht, dass die eigene Aufmerksamkeit durch angeblich skandalöse Fakten und mit gefühlsbetonten Adjektiven maximiert werden soll“, erläutert Michael Kreutzer.
Wer sind die Urheber:innen?
Lassen sich die ursprünglichen Verbreiter:innen der Information leicht identifizieren? Können diese einer seriösen Nachrichtenquelle zugeordnet werden? „Wenn ein Artikel verbreitet wird, der angeblich aus einer allgemein anerkannten Quelle wie etwa der Webseite einer angesehenen Zeitung stammt, aber nicht direkt mit dieser verknüpft ist, sollte man überprüfen, ob er sich tatsächlich auf dieser Quelle befindet“, empfiehlt Martin Steinebach. „Wenn der Artikel nicht namentlich gekennzeichnet ist, dann könnte das Impressum hier Auskunft geben, sofern vorhanden. Ist beides nicht da, ist Skepsis angebracht. Könnten die Verfasser:innen beziehungsweise die Urheber:innen Eigeninteressen verfolgen?“
Was die anderen sagen
Verbreiten andere, journalistisch arbeitende Quellen die gleiche Nachricht? Führen sie übereinstimmende Fakten an? Bei Ereignissen im Ausland: Berichten Medien aus verschiedenen Ländern, in denen journalistische Standards gelten, eine übereinstimmende Lage? Michael Kreutzer: „Ein kritisches Auge ist insbesondere dann angebracht, wenn Meldungen von ‚Staatsmedien‘ anderer Länder stammen.“
Echtheit der Bilder
Kommt das Foto der fraglichen Veröffentlichung in einer nachweislich früheren, anders gelagerten Meldung vor, wenn eine Bildrückwärtssuche im Internet genutzt wird? Martin Steinebach erläutert: „Die inverse Bildersuche kann mit verschiedenen frei verfügbaren Suchmaschinen durchgeführt werden, um identische oder minimal veränderte Bilder zu finden. Die Suchmaschine zeigt an, auf welchen Webseiten das Bild bereits verwendet wird, in welchem Zusammenhang das Bild genutzt wird und seit wann das Foto im Internet zu finden ist.“
Warum man nicht allen Informationen glauben sollte, nur weil sie in unser Weltbild passen, und welche Möglichkeiten und Methoden die Wissenschaft hat, um Desinformationen schnell und systematisch aufzudecken – das und mehr erfahren Sie hier.
„Desinformation aufdecken und bekämpfen“
Umfassende Erforschung eines Phänomens: Wie wirkt Desinformation? Und wie kann sie mithilfe technischer Mittel erkannt werden? Das Buch liefert Antworten auf diese und viele weitere Fragen, die interdisziplinär von den Herausgeber:innen Martin Steinebach, Katarina Bader, Lars Rinsdorf, Nicole Krämer und Alexander Roßnagel aufgearbeitet wurden.
Erschienen 2020 im Nomos-Verlag, frei zugänglich zum Download.