Sind Gas und Atomstrom wirklich nachhaltig?
Die Europäische Union hat entschieden: Erdgas und Atomkraft wird in die EU-Taxonomie aufgenommen und gilt damit als klimafreundlich. Lesen Sie hier Stimmen dazu aus Wissenschaft, Industrieverbänden und NGOs.
Nun ist es beschlossen: Erdgas und Atomkraft gelten in der EU fortan als „grün“ oder „nachhaltig“. Das EU-Parlament hatte unter harter Kritik eines breiten Zusammenschlusses aus Wirtschaft, Politiker:innen und Umweltschützer:innen gebilligt, dass Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke in der EU ab Januar 2023 als klimafreundlich eingestuft werden können. Dafür wurden beide Energiequellen in die EU-Taxonomie aufgenommen. Sie sollen die EU in eine CO2-freie Zukunft führen. Wir haben uns umgehört und Stimmen aus der Wissenschaft, der Wirtschaft und von NGOs gesammelt. Lesen Sie hier, wie diese zu der EU-Entscheidung stehen.
Das sagt die Wissenschaft
Dr. Claudia Kemfert leitet die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg. 2016 wurde sie in den Sachverständigenrat für Umweltfragen berufen, dessen Co-Vorsitzende sie im Rahmen ihrer zweiten Amtszeit ist. Als Mitglied der High Level Group on Energy and Climate hat sie die Europäische Kommission beraten.
„Dass die EU-Taxonomie sowohl Atomkraft als auch fossiles Erdgas als nachhaltig einstuft, ist ein gravierender Fehler, widerspricht den EU-Green-Deal-Zielen und ist zudem rückwärtsgewandt. Weder Atomkraft noch fossiles Erdgas sind nachhaltig. Atomkraft ist teuer, birgt zu große ökonomische und ökologische Risiken, gerade in Kriegszeiten. Auch fossiles Erdgas ist nicht nachhaltig, da sowohl bei der Förderung als auch bei der Verbrennung klimawirksame Treibhausgase entstehen. Fossiles Erdgas ist fast so schädlich wie Kohle. Jegliche Investitionen müssen heute ausschließlich in erneuerbare Energien fließen. Jegliches Geld in Vergangenheitstechnologien fehlt bei der echten Energiewende.“
Professor Dr. rer. nat. Ernst Ulrich von Weizsäcker ist Wissenschaftler, Buchautor, Politiker und Ehrenpräsident des Club of Rome. Er zählt zu den Pionieren nachhaltigen Wirtschaftens. Schon in den frühen 1990er-Jahren hat er in seinem Faktor-Vier-Bericht an den Club of Rome Ideen für eine zukunftsfähige und ressourcenschonende Wirtschaft vorgelegt.
„Die Nachhaltigkeits-Taxonomie war eine vernünftige Idee für die erneuerbaren Energien. Fossiles Gas hineinzumogeln, war schon vor der Ukraine-Krise Unfug. Atomenergie erst recht, aber für Frankreich dringlich, weil man die Dutzenden kranker AKW sanieren will. Die Ausrede, künftige Atommeiler wären niedlich klein, billig und sicher, ist ein Schmarrn. Photovoltaik-Strom ist kleiner, billiger und sicherer! Und Mini-AKW können Zielscheibe für Terroristen werden.“
Professor Dr. Alexander Bassen berät die Bundesregierung in drei wichtigen Beiräten. Der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und im Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) sowie im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung aktiv.
„Die EU-Taxonomie hat das erklärte Ziel, Greenwashing zu unterbinden. Dass bestimmte Nuklear- und Gasaktivitäten nun auch als nachhaltig im Sinne der Taxonomie gelten können, sendet ein falsches Signal. Diese Energiequellen gefährden andere Umweltziele der Taxonomie, und Investitionen in sie begünstigen Lock-in-Effekte. Außerdem werden Investitionen in nicht taxonomiekonforme Projekte durch die Taxonomie-Verordnung nicht verboten. Nuklear- und Gasaktivitäten könnten somit ohne Aufnahme in die Taxonomie fortbestehen. Sie als nachhaltig zu klassifizieren, ist Augenwischerei.“
Dr. Kerstin Lopatta ist Professorin an der Universität Hamburg und Mitglied im Managementboard der Wissenschaftsplattform Sustainable Finance. In ihrer Forschung untersucht sie die Effekte von ESG-Faktoren (Umwelt, Sozial- und Unternehmensführung) auf Unternehmen und Gesellschaft. Kerstin Lopatta ist Mitglied im Aufsichtsrat und Vorsitzende des Prüfungsausschusses der EQS Group AG und Mitglied im Direktorium der Global Research Alliance for Sustainable Finance and Investment.
„Dass Nuklear- und Gaskraftwerke im Rahmen der EU-Taxonomie zukünftig als nachhaltig gelten können, unterhöhlt die ursprünglich ambitionierte EU-Taxonomie. Als eine Verordnung, welche die Klassifizierung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten objektivieren soll, ist die Taxonomie dazu gedacht, Finanzakteuren Transparenz über nachhaltige Investitionsmöglichkeiten zu bieten. Wer sein Geld nachhaltig anlegen möchte, aber weder Atomkraft noch Erdgas für ‚grün‘ hält, wird sich auf Taxonomie-Berichterstattung künftig nicht verlassen können.“
Professor Dr. Timo Busch lehrt Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und ist Senior Fellow am Center for Sustainable Finance and Private Wealth der Universität Zürich. Er ist Mitglied des Lenkungskreises der Wissenschaftsplattform Klimaschutz, der die deutsche Bundesregierung berät. Zuvor war er am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig.
„Ein großer Bärendienst. Man führe sich vor Augen: Ab August dieses Jahres müssen Anbieter von Investmentprodukten die Nachhaltigkeitspräferenzen der Anleger abfragen. Basierend darauf können als eine Option Produkte offeriert werden, die nachhaltige Investitionen beinhalten. Was dies genau ist, wird durch die Taxonomie festgelegt. Oma Else verkündet beispielweise, Umweltschutz ist ihr wichtig. Ihr Spargroschen fließt dann in Atomkraft und Gas. Unabhängig davon, wie sie das nun findet, frage ich mich, wie Atomkraft mit einem anderen Prinzip der EU-Vorgaben vereinbar ist: keinen signifikanten Schaden zu verursachen.“
Dr.-Ing. Markus Koschlik ist Professor für Bauingenieurwesen an der DHBW Mosbach. Er promovierte am Institut für Baubetrieb der Universität der Bundeswehr München zum Thema „Verfahren zur ganzheitlichen Nachhaltigkeitsintegration bei öffentlichen Baumaßnahmen im In- und Ausland“. Zuvor war er zwölf Jahre lang Offizier der Bundeswehr und als militärischer Bauleiter unter anderem in Afghanistan eingesetzt.
„Die ‚ökologische‘ Taxonomie ist eine EU-Verordnung, die Vorgaben für nachhaltige Investitionen definiert. So lautete zumindest das ursprüngliche Ziel. Seit dem 6. Juli 2022 ist die Taxonomie aber etwas anderes: Sie ist das perfekte Beispiel dafür, wie auf höchster EU-Ebene Greenwashing betrieben wird. Dabei sollte die EU es doch besser wissen, hat sie doch erst vor Kurzem Regeln gegen das Greenwashing von Unternehmen erstellt. Adieu Green Deal; begrüßen wir wieder die Vergangenheit!“
Was ist die EU-Taxonomie-Verordnung?
Die Taxonomie ist ein Gesetzesvorhaben der EU, das festlegt, welche Wirtschaftstätigkeiten und Technologien als „grün“ oder „nachhaltig“ bezeichnet werden dürfen. Sie soll als Wegweiser dienen, um Finanzströme in grüne Wirtschaftsbereiche zu lenken. Damit können nur noch Geldanlagen, die nach den Vorgaben der Taxonomie getätigt werden, das Label „Nachhaltigkeitsfonds“ verwenden. Größere Unternehmen und Finanzinstitute müssen zudem offenlegen, welcher Anteil ihrer Finanzaktivitäten den Vorgaben der Taxonomie entspricht. Die EU-Taxonomie soll auch für Transparenz sorgen, denn zeigt Verbraucher:innen und Investor:innen, welche wirtschaftlichen Aktivitäten nachhaltig sind.
Das sagt die Wirtschaft
Dr. Katharina Reuter führt seit 2014 die Geschäfte des Bundesverbandes Nachhaltige Wirtschaft (BNW). Die Agrarökonomin war als Geschäftsführerin der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und der Klima-Allianz Deutschland tätig. Unter anderem ist sie Mitbegründerin der European Sustainable Business Federation, der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg sowie der Entrepreneurs For Future.
„Die Entscheidung des EU-Parlaments, Atom und Gas als nachhaltig zu labeln, konterkariert alle Bemühungen der EU, den Green Deal wirklich ernsthaft umzusetzen. Die Entscheidung ist ein herber Rückschlag nicht nur für die Wirksamkeit der Taxonomie, sondern vor allem für deren Glaubwürdigkeit. Damit sind auch die Gütesiegel der Finanzbranche massiv beschädigt. Viel schlimmer ist aber, dass die fossile Lobby damit die nächste Generation immer stärker in ihren Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt und die Klimagerechtigkeit mit Füßen tritt.“
Holger Lösch ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Nach beruflichen Stationen als Journalist und in der Unternehmenskommunikation wurde er im Jahr 2008 Bereichsleiter Kommunikation und Marketing des BDI, seit 2009 ist er auch Mitglied der Geschäftsleitung. In einem Statement des BDI schreibt er:
„Mit der EU-Taxonomie ist jetzt der Weg frei für Finanzströme in den Übergang von Kohle und Erdgas zu erneuerbaren und alternativen Gasen – das gibt der Industrie Planungssicherheit. Unsere Brückentechnologie für das Zeitalter der Erneuerbaren ist das Gas. Für Energieversorgungssicherheit inmitten der aktuellen Energiekrise braucht es mehr denn je Investitionen in Gasinfrastrukturen, vor allem auch in Flüssiggas-Terminals. Neue Gaskraftwerke müssen wasserstofffähig sein − und damit langfristig CO2-neutral.“
Yvonne Zwick ist Vorsitzende des Bundesdeutschen Arbeitskreises für Umweltbewusstes Management (B.A.U.M.) e. V. Zuvor war die studierte Theologin viele Jahre als stellvertretende Generalsekretärin des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) der Bundesregierung tätig.
„Die Mehrheit im EU-Parlament für Atom und Gas in der Taxonomie wirft uns zurück auf den Status quo ante. Das Ansinnen für die Ausarbeitung eines Klassifikationssystems für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten, Klarheit in den Markt zu bekommen, wird verfehlt. Pragmatisch wäre, die Taxonomie zu ignorieren. Was wir befürchten müssen, ist, dass sie unter dem Deckmantel des Übergangs Investments in fossile Unrechtsökonomien befördert. Für die Neuorientierung von Kapitalflüssen und die Bewertung von Investmentrisiken kommen wir, wie auch schon zuvor, nicht um eine ganzheitliche Betrachtung umfassender Nachhaltigkeitskriterien herum.“
Dr. Wolfgang Große Entrup ist Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Der promovierte Agraringenieur ist derzeit Senior Vice President bei der Bayer AG. Davor war Große Entrup bei der BASF SE in Vertriebs- und Stabsorganisationen in leitenden Funktionen tätig. Im offiziellen Statement des VCI wird er mit folgenden Worten zitiert:
„Mit einem Wolkenkuckucksheim von Zwischenzielen wie im Entwurf hätte die Kommission die Transformation mehr ausgebremst statt beschleunigt. Moderne Erdgaskraftwerke sind für eine sichere Stromversorgung unbestritten eine zwingend notwendige Brückentechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität. Das gilt vor allem für das Industrieland Deutschland.“
Professor Dr. Maximilian Gege bekleidet zahlreiche Funktionen in Beiräten und Jurys. Der Gründer und Ehrenvorsitzende des Bundesdeutschen Arbeitskreises für Umweltbewusstes Management (B.A.U.M.) e. V. hat über 20 nationale und internationale Auszeichnungen erhalten. Seit 2001 ist er Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg.
„Was für eine fatale Fehlentscheidung, auch was die Finanzen angeht! Anlegerinnen und Anleger sollen mit gutem Gewissen in Atomkraft und Erdgas investieren können. Auch Finanzmittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU können so in diese keinesfalls nachhaltigen Energieträger fließen. Die mit nuklearer Energie verbundenen Risiken lassen Milliarden Kosten für Versicherungen erwarten. Weitere Kosten entstehen mit der späteren Entsorgung.“
Das sagen die NGOs
Mauricio Vargas ist Finanz-und Wirtschaftsexperte bei Greenpeace. Mit seinem Fachwissen und seinen Analysen unterstützt er die Teams Energiewende und Mobilität bei Kampagnen. Vorher hat er zehn Jahre lang als Volkswirt und Analyst für einen großen Vermögensverwalter gearbeitet.
„Die EU darf Investoren nicht absichtlich im Dunkeln lassen, wo sie ihr Geld klimafreundlich und zukunftstauglich einsetzen können. Wer Gas und Atom nachhaltig nennt, stürzt die Finanzakteure in Orientierungslosigkeit, die zu windigen Angeboten einlädt und Klimaschutz untergräbt. Beides wollen wir mit der Klage verhindern.“
Stefan Schurig ist seit 2017 Generalsekretär der internationalen Stiftungsplattform F20. Sie ist ein Forum von über 60 Stiftungen, die sich für die Umsetzung der 2030 Agenda und des Pariser Klimaabkommens einsetzen. Von 2007 bis August 2017 war Schurig Leiter der Abteilung Energie und Nachhaltige Städte und Vorstandsmitglied der Stiftung World Future Council (WFC).
„Man kann über Kernenergie und Gas unterschiedlicher Meinung sein. Fair enough! Aber beides als nachhaltig zu kennzeichnen, ist reiner Fake – und eine Blamage der EU in der Welt. Investoren wollen vor allem eins: investieren. Und Klarheit. Niemand hat mehr Interesse an neuen Mogelpackungen, die Verwirrung und neue Unklarheiten stiften. Und das in Zeiten, in denen die Klima- und Energiekrise mit voller Wucht zu spüren ist. Mutmaßlich wird dies nun auch von Gerichten so bestätigt werden – was die Angelegenheit für die EU nicht angenehmer macht.“
Matthias Kopp leitet den Bereich Sustainable Finance beim WWF Deutschland. Der studierte Wirtschaftsingenieur arbeitete für PwC und IBM und baute beim WWF den Bereich Finanzmärkte auf. Er ist unter anderem Mitglied im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung, im Beirat der Börse Hannover zum GCX sowie im Beirat der Klimaschutz-Unternehmen.
„Es ist eine große Enttäuschung: Das EU-Parlament schafft die Grundlage für strukturelles Greenwashing. Erdgas und Atomkraft sind nicht nachhaltig. Private Anlegerinnen und Anleger werden nicht in ,nachhaltige‘ Produkte investieren wollen, die das Taxonomie-Label tragen. Den Finanzinstituten hilft die Taxonomie in dieser Form nicht, weil sie keine Klarheit und Eindeutigkeit mehr verspricht. Die Glaubwürdigkeit der EU-Taxonomie ist dahin. Die EU hat ein Kernstück ihres Green Deals und der notwendigen Transformation für kurzfristige politische Interessen geopfert.“