ZEIT für X
Luftballon

Wenn nichts mehr geht

27. Oktober 2022
ZEIT Redaktion

Unsere große Mittelstandsstudie zeigt, wie sehr Stress, Ängste und Burn-outs Unternehmer belasten. Aber es gibt Auswege

von Niclas Seydack und Jens Tönnesmann, Redakteur im Wirtschaftsressort, DIE ZEIT, verantwortlicher Redakteur, ZEIT für Unternehmer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2022.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Als die Unternehmerin Anne Koark einsehen muss, dass sich ihre Firma und sie in der größtmöglichen Krise befinden, wächst in ihr ein einzelner Gedanke zu einer allumfassenden Angst: Sollte es zu einer Insolvenz kommen, werde sie die Wohnung verlieren. Man werde ihre Konten sperren, sie werde obdachlos, und man werde ihr die Kinder wegnehmen. Sie glaubt es fest: Wer als Unternehmerin scheitert, scheitert als Mensch, also auch als Mutter.

»Wenn man in eine Krise kommt, fangen die Gedankenspiralen an«, sagt Koark heute, »und die kennen nur eine Richtung: abwärts.« Dann erzählt die 59-Jährige von jenem Tag in ihrer Krise, »an dem ich mir auf dem Heimweg mit dem Auto die Leitplanke sehr genau angeschaut habe«. Nicht weil sie habe sterben wollen, sagt Koark, nein. Sondern weil es so ein leichter Ausweg gewesen wäre. Alles wäre überstanden. Alles.

Ein Unternehmen zu führen kann sich anfühlen wie ein Rausch. Solange es gut läuft. Die Arbeit mag fordernd sein, und es gibt viel davon; gegenüber dem Deutschen »Startup Monitor« etwa gaben die 1550 befragten Gründer im Schnitt eine Arbeitszeit von 57 Stunden an, 49 Stunden unter der Woche und 8 Stunden an Wochenenden. Aber der Traum vom eigenen Unternehmen ist es vielen wert, Freizeit und womöglich auch die eigene Gesundheit zu opfern. Weil man denkt: Es lohnt sich – und es wird sich auch zukünftig lohnen.

Anders ist es, wenn es nicht mehr läuft. Wenn Unternehmer und Gründerinnen 57 Stunden pro Woche gegen die Angst vorm Scheitern anarbeiten. Manche trinken jeden Abend eine Flasche Wein gegen die schlechten Gedanken. Andere geraten in Gedankenspiralen wie Anne Koark, deren Unternehmen »Trust in Business« sich darauf spezialisiert hatte, ausländische Firmen bei Geschäften in Deutschland zu beraten – doch die Aufträge blieben aus, während sich die Kosten auftürmten. Das ist 20 Jahre her, aber es war der Wendepunkt in Koarks Leben. Denn schlimmstenfalls zieht der Körper eine Notbremse, der Ärzte später Namen geben: Depression, Angststörung, Burn-out.

Wie verbreitet solche Probleme in einer Zeit vieler sich überlagernder Krisen sind, zeigt die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft«. Für die Studie hat das Analyse- und Beratungsunternehmen Aserto 400 Unternehmerinnen und Unternehmer aus ganz Deutschland befragt (siehe Kasten). Drei Viertel der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sie mit ihrer Firma auch dann etwas bewegen wollen, wenn ihnen weniger Zeit fürs Privatleben bleibt. Und zwei Drittel arbeiten nach eigenem Bekunden auch an freien Tagen und im Urlaub, das gehöre halt dazu.

Die Mittelstandsstudie ist eine Initiative von ZEIT für Unternehmer und »In guter Gesellschaft – Stiftung für zeitgemäßes Unternehmertum«. Die Stiftung wurde von den Geschwistern Anke und Thomas Rippert aus Ostwestfalen gegründet, um verantwortungs-bewusstes Unternehmertum zu fördern.

Die Stiftung finanziert die Durchführung der Befragung sowie ihre wissenschaftliche Auswertung durch das hannoversche Analyse- und Beratungsunternehmen Aserto. Die Ergebnisse werden der Redaktion in anonymisierter Form unentgeltlich zur Verfügung gestellt, auf ihre redaktionelle Veröffentlichung hat die Stiftung keinerlei Einfluss.

Für die Studie wurden zum Jahreswechsel 2021/2022 rund 400 Unternehmerinnen und Unternehmer aus ganz Deutschland befragt. Obwohl die Studie nicht repräsentativ sein kann, weil die Teilnehmer nicht zufällig ausgewählt wurden, spiegelt sie nach Einschätzung von Aserto den deutschen Mittelstand gut wider und erlaubt verallgemeinerbare Aussagen.

Die Folge: Jeweils jeder dritte Befragte fühlt sich mental und körperlich erschöpft und hin- und hergerissen zwischen Familie und Unternehmen. Jeder Vierte hat Angst zu scheitern – und ebenso hoch ist der Anteil derjenigen, die einen Burn-out befürchten. Auffällig ist, dass besonders die jüngeren Befragten davon betroffen sind: Den schmerzhaften Spagat zwischen Familie und Firma etwa spürt fast jeder zweite Unternehmer zwischen 25 und 44 Jahren.

Schlafprobleme. Reizbarkeit. Desinteresse an Menschen. Entscheidungsschwierigkeiten. Ein kleiner Autounfall. Von diesen Symptomen berichtete die bekannte Unternehmerin Lea-Sophie Cramer, als sie in diesem Sommer einen Burn-out öffentlich machte. Genau wie einen Klinikaufenthalt, ohne den sie keinen Ausweg gefunden hätte. Sie wolle das Thema nicht für Aufmerksamkeit nutzen, »wohl aber Bewusstsein schaffen dafür, wie der eigene hohe Leistungsanspruch kippen kann«, schrieb die 35-Jährige auf der Plattform LinkedIn. Sie glaube, »dass es Menschen da draußen gibt, denen genau meine Geschichte weiterhilft«.

Für ihre Offenheit bekam Cramer Tausende Dankes-Emojis, viele Betroffene outeten sich ebenfalls: »Ich habe den Scheiß auch durch«, kommentierte ein Manager. Ein anderer: »Kenne die Situation, die Folgen und das ganze Drumherum aus eigener Erfahrung … zweimal!« Und eine Unternehmerin berichtete, dass sie es als Quatsch abgetan habe, als ihr Arzt einen Burn-out diagnostizierte. »Dann haben mich meine Panikattacken eines Besseren belehrt, und mein Körper hat die Notbremse gezogen.«

Als Lea-Sophie Cramer, Gründerin des Online-Erotikshops Amorelie und vielfach ausgezeichnete Unternehmerin, ihre Geschichte öffentlich machte, war ihr Burn-out schon einige Jahre her. Und auch die meisten Kommentatoren berichten von ihrer eigenen Erfahrung in der Vergangenheitsform. Wenn sie in einer Position des Rückblicks sagen können: Jedes Scheitern birgt eine Lektion und macht stärker. Bloß: Wie kommt man aus dem Tal wieder raus?

Anne Koark kann sich heute erklären, warum die Krise ihrer Firma ihr Angst einjagte, ihre Kinder zu verlieren. Ihre Firma sei für sie wie ein »weiteres Kind« gewesen. »Gründer und Unternehmerinnen erschaffen etwas aus dem Nichts«, sagt sie, »wie Kinder, die man zur Welt bringt.« In dieser extrem engen Bindung stecke beides: der Antrieb, alles für das Unternehmen zu geben. Und der Starrsinn, auch über den Zeitpunkt hinaus alles für die Firma zu geben, an dem man kaum noch etwas ändern kann. »Wenn das eigene Kind krank wird, bringt man es zum Arzt«, sagt Koark, »man sollte nicht versuchen, es selbst zu operieren.«

Koark versuchte es dennoch. Wenn sie nur noch mehr Einsatz brächte, dachte sie, würde alles wieder gut werden. Wurde es nicht. Dann war er da, »der schwärzeste Tag aller Zeiten«, wie ihn Koark nennt: Der Weg zum Insolvenzverwalter sei ihr vorgekommen, als sei sie zu einer Beerdigung gefahren.

Wenn Sie Hilfe brauchen oder einen Gesprächspartner in schwierigen Situationen suchen, können Sie kostenfrei und anonym bei der Telefonseelsorge anrufen: 0800/111 0 111. Weitere Infos: www.telefonseelsorge.de

Zwar verlor sie ihre Firma, aber natürlich kam nicht das Jugendamt. Zwar verlor sie viel Geld, aber nicht sich selbst. Dass sie an diesem einen Tag auf dem Heimweg die Leitplanke sehr genau angesehen hatte, habe sie so erschreckt, dass sie beschloss, nicht in Trauer zu versinken. Sie wollte freundlich zu sich selbst bleiben. Sich verzeihen, sich aufmuntern. Mit ihrem Lippenstift schrieb sie damals an den Spiegel: »Guten Morgen, Schatz« – das habe sie jeden Tag aufs Neue zum Lächeln gebracht. Und das habe ihr gutgetan: dass da jemand zurücklächelt.

Koark hat ein Buch über ihre Erfahrungen verfasst, es heißt Insolvent und trotzdem erfolgreich, sie spricht auf Konferenzen über Rückschläge. Koark tritt in Podcasts auf, sie hält Reden, etwa im EU-Parlament und vor dem Global Summit of Women, einer Art Gipfeltreffen mächtiger Frauen. Sie will Menschen helfen, mit dem Stress und dem Scheitern klarzukommen. Anne Koark ist zu einer Anti-Angst-Aktivistin geworden.

Koark sagt, es helfe Unternehmern, wenn sie sich regelmäßig fragen: »Wer bin ich ohne meinen Job?« Wenn dann nicht viel übrig bleibe, sollte man das als Warnzeichen sehen und anfangen, etwas aufzubauen – weil es neben der Arbeit noch mehr geben müsse im Leben. Umgekehrt sei es wichtig, sich nicht für Hirn und Herz der Firma zu halten – man müsse auch lernen, Aufgaben abzugeben. Wer denkt, ohne sie oder ihn laufe gar nichts, bei dem läuft irgendwann selbst nichts mehr.

Mona Griesbeck, 49, hat erlebt, wie bereitwillig sie als Unternehmerin große Teile der eigenen Persönlichkeit verkümmern ließ. Zuerst, so erzählt es Griesbeck, verlor sie ihr soziales Umfeld. Sie war Mitgründerin eines Start-ups, das eine Art Mini-Hubschrauber namens Gyrocopter bauen wollte. Neben der Arbeit blieb keine Zeit, um Freundschaften zu pflegen. Als Nächstes, sagt Griesbeck, habe sie sich selbst vergessen. Keine Auszeiten mehr, keine Pausen. Übrig blieb vom Menschen Mona Griesbeck nur die Unternehmerin, die 14, 15 Stunden am Tag in die Firma steckte und sich daneben um die Kinder kümmerte: »Rückblickend finde ich es erschreckend, wie sehr ich die Scheuklappen immer enger zog.«

Wie erklärt sich Griesbeck, dass man in der akuten Situation nicht sieht, was später so offensichtlich wird? Griesbeck sagt: »Das ist die Karotte, die man sich vor die Nase klemmt. Eine wirkungsvolle Methode, sich selber zu belügen, dass man absehbar erreichen wird, was man erreichen will, wenn man nur nicht aufgibt.«

Für Griesbeck findet der Dauerstress erst ein Ende, als ein Arzt sie mit einer Burn-out-Diagnose in eine Klinik überweist. Dazu kommt eine stressbedingte Immunerkrankung, die ihre Schilddrüse ruinierte. Zwei Jahre dauert es, bis sie wieder so weit ist, dass sie arbeiten kann und will, so erzählt sie es. Sie gründet aus ihrer Erfahrung erneut: Care and Work, eine Beratung für Unternehmer und deren Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt auf Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf.Heute engagiert sie sich außerdem im Bundesverband mittelständische Wirtschaft, der sie als Ansprechpartnerin für Burn-outs und Stress empfiehlt.

Seit 2019 hat Griesbeck nach eigenen Worten rund 100 Unternehmer beraten. Dabei hat sie beobachtet, dass weibliche und männliche Führungskräfte mit Stress unterschiedlich umgehen. Aber stimmt das alte Klischee, dass Männer häufiger Wutausbrüche haben und eher Süchte entwickeln – während Frauen sich eher bis zur vollkommenen Erschöpfung aufzehren?

In dieser Eindeutigkeit lässt sich das Klischee mithilfe der Studie von ZEIT für Unternehmer nicht belegen. Allerdings haben Unternehmerinnen in der Studie etwas häufiger als Unternehmer geantwortet, dass sie sich nicht wertgeschätzt fühlen für das, was sie für Firma und Beschäftigte leisten. Zugleich ergreifen sie öfter Maßnahmen, um Stress abzubauen. Unternehmer wiederum stimmen etwas häufiger als Unternehmerinnen der Aussage zu, dass Geld für sie eine wichtige Rolle im Leben spiele.

Griesbeck hält es für wichtig, »verkrustete« Verhältnisse anzusprechen und anzugreifen. Es brauche Führungskräfte, die zeigen, wie man in der eigenen Karriere »selbstbewusst und sozialkompatibel« Prioritäten setzen kann, anstatt sich von äußerem Druck treiben zu lassen. Für sie ist die Managerin Vera Schneevoigt so ein Vorbild. Die beschloss mit Mitte 50, ihren Job als Chief Digital Officer bei Bosch gegen die Pflege ihrer Eltern zu tauschen. Als die Managerin den Schritt auf der Plattform Xing begründete, verband sie das mit einem Wunsch: »Personalabteilungen müssen schnellstens Modelle ersinnen und ausprobieren, die es ihren Mitarbeitenden ermöglichen, Pflegezeiten und Job miteinander zu verbinden – das gilt übrigens nicht nur für Frauen!«

Dann erinnert Griesbeck noch an die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber: Wie wäre es, wenn man Unternehmer auch zu einer Art Selbstfürsorgepflicht anleiten würde – wie bei der Sicherheitseinweisung im Flugzeug? Da bekomme man erklärt, man möge sich die Sauerstoffmaske im Notfall erst mal selbst aufsetzen, bevor man anderen helfe. Als Führungskraft mache man es oft umgekehrt. »Und dann wundern wir uns, wenn wir zusammenklappen – und anschließend niemandem mehr helfen können.«